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Blog: Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen

Alexander PODRABINEK 2007: Novye Aldy: schafft man nicht zu vergessen

Der Obrigkeit Russlands wird die Verantwortung für die Massenmorde anerkannt

Am 26. Juli prüfte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Fall „MUSAEV und Andere gegen Russland“, in dem es um eine Massenerschießung der friedlichen Bevölkerung der Siedlung Nowye Aldy geht. Die Forderungen der Kläger wurden durch Juristen des Menschenrechtzentrums „Memorial“ (Moskau) und des europäischen Menschenrechtzentrums EHRAC (London) unterstützt.

Alle fünf Kläger sind Familienangehörige der Getöteten. Jusup MUSAEV wurde am 5. Februar 2000 zum Zeugen einer Ermordung von neun Menschen, sieben von ihnen waren seine Verwandten. Sulejman MAGAMADOV wohnte während des Geschehens in Inguschetien, als er von der „Säuberung“ erfuhr, kam er nach Novye Aldy, um die Überreste seiner zwei Brüder zu beerdigen, die am 5. Februar verbrannt wurden, möglicherweise bei lebendigem Leib. Tamara MAGAMADOVA war die Frau von einem der MAGAMADOV-Brüder. Malika LABAZANOVA wurde im Hof ihres eigenen Hauses, zur Zeugin einer Ermordung – begangen durch föderale Kräfte – von drei ihrer Verwandten: einer 60-jährigen Frau, eines 70-jährigen Greisen und eines 47-järigen Invaliden. Sie wurden alle erschossen, weil sie es nicht geschafft haben, die von den Mördern verlangte (Geld-)Summe – das Lösegeld für ihr Leben – zu sammeln. Hasan ABDULMEZHIDOV, der Mann von LABOZANOVA, entkam der Hinrichtung, weil er zu der Zeit in dem Haus der Nachbarn war.

Die Regierung von Russland hat in Straßburg ihre Argumente vorgelegt. Sie hat nicht abgestritten, dass an diesem Tag in Novye Aldy die St. Petersburger (Polizei-Spezialeinheit) OMON einen „Sondereinsatz“ durchgeführt hat, stellte jedoch klar, dass die Beteiligung der Spezialeinheit-Mitglieder an den Morden durch die Untersuchung nicht nachgewiesen wurde. Ja, wie es aussieht, gab es eine Untersuchung – am 5. März 2000 hat die Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik ein Strafverfahren wegen Massentod von Menschen eingeleitet. Die Untersuchung hat zu nichts geführt. Wie es sich herausstellte, war es nicht in der Macht der Staatsanwaltschaft, die Namen der Mörder aus der Armee und OMON sicherzustellen. Der Europäische Gerichtshof hat mehrmals aufgefordert, ihm die Material-Kopien der Untersuchung zukommen zulassen. Die russische Regierung weigerte sich konsequent, ihm diese auszuhändigend, berufend auf Geheimhaltung.

Dafür behauptete die Regierung, dass nicht alle innerstaatlichen Mittel der Rechtsverteidigung in diesem Fall ausgeschöpft sind. Offensichtlich sind 7 Jahre eine viel zu kleine Frist für die russische Rechtssprechung, um die Wahrheit herauszufinden und die Täter zu bestraffen.

Am 26. Juli hat das Gericht in Straßburg dieses Argument der russischen Regierung einstimmig abgelehnt. Das Gericht erkannte an, dass die Verantwortung für die unberechtigten Morde von Verwandten der Kläger bei der Obrigkeit Russlands liegt. Ebenso erkannte das Gericht die Untersuchungen der russischen Rechtssprechung zum Massenmord als nicht effektiv an.

Auf Beschluss des Gerichts muss Russland an die Kläger eine Kompensation für den moralischen Schaden auszahlen: an Jusup MUSAEV – 35.000 Euro, an Sulejman MAGOMADOV – 30.000 Euro, an Tamara MAGOMADOVA – 40.000 Euro, an Malika LABOZANOVA und Hasan ABDULMEZHIDOV – 40.000 Euro. Abgesehen davon wird die Regierung Russlands an Tamara MAGAMADOVA, für ihren materiellen Schaden, 8.000 Euro auszahlen, ebenso wird diese die Gerichtskosten und die Ausgaben der Kläger, in Höhe von 14.050 und 4.580 Pfund Sterling übernehmen.

170.000 Euro, die Russland für den verlorenen Prozess auszahlen wird – sind nichts für den russischen Staat, vor allem weil das Geld aus dem staatlichen Budget ausgezahlt wird, und nicht aus der Tasche jener konkreten Beamten und Richter, die für die uneffektive Rechtssprechung verantwortlich sind. 170.000 Euro – sind nichts für die Familieangehörigen der Verstorbenen, denn mit welcher Geldsumme kann man das Leben der nahestehenden Menschen gleichsetzen.

Der Entschluss des Europäischen Gerichtshofs – ist kein Triumph der Gerechtigkeit, sondern zeigt vielmehr der russischen Obrigkeit die Ineffizienz des nationalen Gerichtssystems auf und stellt eine indirekte Anklage an die Staatsanwaltschaft und das Gericht nicht unabhängig zu sein dar.

Ein Triumph der Gerechtigkeit würde erst in dem Fall stattfinden, wenn die Mörder von den 56 friedlichen Bewohnern der Siedlung Novye Aldy, sich vor dem Strafgericht verantworten und eine Straffe, gemäß ihrer Tat im Vorort von Grozny vom 5. Februar 2000, verbüßen müssten.

SONDERREPORTAGEN VON ANNA POLITKOWSKAJA

Das, was letzte Woche in Straßburg zum Gegenstand einer Beurteilung wurde, war seit langem bekannt: im Detail, mit Benennung von Dienststellen und Einheiten, deren Militärpersonal dieses scheußliche Verbrechen in Novye Aldy verübt hatte. Anna POLTKOWSKAJA sammelte die Aussagen der Überlebenden und veröffentlichte diese auch – gleich im Februar 2000. Danach setzte sie ihre Ermittlungen fort, wobei sie erzählte, wie passiv die Ermittlungen geleitet wurden und wer konkret die Untersuchung behinderte: niemand wollte nach den Bastarden suchen, die durch Nahschüsse töteten und bei lebendigen Leib Frauen und alte Menschen verbrannten. Auch jetzt noch, nach 7 Jahren, ist es unerträglich die Aussagen der Augenzeugen zu lesen – daher konnten wir uns dazu nicht durchringen, diese in der Zeitung abzudrucken, sondern haben sie auf unserer Website untergebracht. Die Reaktion der Obrigkeit viel damals wie üblich aus: POLITKOWSKAJA wurde wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen beschuldigt, wegen Aufhetzung (sie hätte Aufruhe geschürt) und sie wurde auch beschuldigt „VErbrechern“ Beistand geleistet zu haben. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte alles an seinen Platz gestellt. Bloß sind die Mörder noch im Freien, mit ihren Dienstgraden und Orden, und es gibt keine Voraussetzungen, dass man vorhat sie zur strafrechtlichen Verantwortung heranzuziehen.

Freiheit oder Tod?

Es entpuppte sich als ein und dasselbe …
Das sind unmenschliche Geschichten. Man sagt, sie sollten um der Glaubwürdigkeit-Willen in mehrer Teile zerteilt werden (10, 100, 200?). Aber ganz egal in wie viele Teile man sie zerteilt – sie bleiben dennoch schrecklich.

[…] Rezeda fängt an ein Schaubild der Straßen in Aldy aufzuzeichnen und wie sich die Soldaten bewegt haben. „Hier ist unser Haus“ – sagt Rezeda – „und hier – das von Sultan TEMIROV, Nachbar im Rentenalter. Ihm haben die Vertrags-Soldaten, während er noch lebte, den Kopf abgeschnitten und es mitgenommen. Und … den Körper haben sie den Hunden vorgeworfen … Später, nachdem die föderalen Truppen zu den anderen Häusern gegangen sind, haben die Nachbarn bei den wildgewordenen Hunden das linke Bein und die Leiste weggenommen – diese dann auch beerdigt…“

Die Zeugen glauben, dass während der Säuberung in Aldy mehr als hundert Menschen gestorben sind – genauere Daten gibt es derzeit nicht. Vor allem sind diejenigen zu Schaden gekommen, die sich auf der Voronezhskaja-Str. und der Matasch-Mazaev-Str. befunden haben. […] Diese Auswahl geschah zufällig: denn die Matasch-Mazaev-Str. – ist einfach die erste, wenn man nach Aldy reinkommt.

Rezeda setzt ihren gedachten Wanderweg durch die Häuser fort: „Nachdem sie bei uns vorbei gegangen sind. […] Weiter – steht das Haus der HAJDAROVs. Dort haben sie den Vater und den Sohn erschossen – Gula und Waha. Der alte Mann – war über 80. Hinter ihm wohnte Avalu SUGAIPOV, bei ihm sind Flüchtlinge untergekommen […] zwei Männer, eine Frau und ein 5-jähriges Mädchen. Alle Erwachsenen wurden mit dem Feuerwerfer verbrannt, die Mutter eingeschlossen, vor den Augen der Tochter. Vor der Hinrichtung haben die Soldaten der Kleinen eine Dose gezuckerte Kondensmilch gegeben und sagten: „Geh mal spazieren“. Wahrscheinlich ist das Mädchen verrückt geworden. Auf der Voronezhskaja-Str. 120 wohnten die MUSAEVs. Von ihnen wurden der alte Jakub erschossen, sein Sohn Umar und die Neffen – Jusup, Abdrahman und Sulejman. […]

Die ältere Schwester Larisa fährt fort. Sie sagt Sachen, die der Fantasie eines psychisch gesunden Menschen nicht zugänglich sind. Darüber, dass die Bäume auf ihrer Straße jetzt mit unförmigen Blut-Flecken „geschmückt“ sind – weil man an diese die Menschen zum Erschießen gestellt hatte. „Aber die Baumstämme bekommt man nicht sauber! Daher kann ich zum Beispiel, nie wieder dort hin zurückkehren“ […].
27.03.2000

MORD ODER HINRICHTUNG?

Ein Jahr nach der Tragödie
[…] Malika LABAZANOVA – eine Bäckerin aus der Siedlung NA am Stadtrand von Grozny. Sie backt ihr Leben lang Brötchen. […] In ihrer Arbeit hatte sie bloß nur eine einzige Unterbrechug – aber die hat ihr leben in zwei Teile zerschmettert: VOR dem 5. Februar und NACH dem 5. Februar. […]
Vom 6. Februar an, hat Malika selbst die Leichen in den Keller geschaffen. Hat sie selbst vor den hungrigen Hunden und Krähenschwärmen bewacht, hat sie selbst aufbewahrt und später die Kacheln im Keller geputzt…

[…] Im Laufe mehrerer Wochen haben die Familien „ihre“ Leichen entgegen allen Traditionen nicht beerdigt – sie warteten auf die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, damit diese, wie es sich gehört, alles aufzeichnen, ins Protokoll aufnehmen und die erforderlichen Ermittlungen durchführen. Dann haben sie die doch begraben, weil sie nicht länger warten konnte. Danach fingen sie an auf die Todesbescheinigungen zu warte – nicht viele habe eine erhalten. Allerdings wurde der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft von Grozny, der die Unterlagen rausgegeben hat, in denen auch die Todesursachen standen* (Stich- und Schnittwunden, Schusswunden), kurze Zeit später plötzlich an einen anderen Arbeitsort versetzt, und diejenigen, die die Unterlagen von ihm bekommen hatten, wurden zu der Verwaltung des Zavadskoj-Bezirks ((ist ein Eigennamen, bedeutet: Industrie-Bezirk)) gerufen. Ihnen wurde befohlen diese abzugeben, um im Gegenzug eine neue Version der Todesbescheinigungen zu erhalte (so haben sie es dem Menschen erklärt), in der, wie es sich rausstellte, es überhaupt keine Zeile „Todesursache“ gab…

[…] Ergebnisse der Ermittlungen – es gibt keine. In den zehn vergangenen Monaten wurden die Zeugen befragt. Niemand von ihnen hat sich getraut ein Phantombild zu erstellen, obwohl einige der Mörder ihre Gesichter nicht verdeckt hatten.

Es ist nun vollkommen offensichtlich, dass der Fall der Tragödie, die Generalstaatsanwaltschaft mit Erfolg ausbremst. Den NA-Einwohnern, die nachfragen, gibt sie in offiziellen Briefen bekannte, dass angeblich der Fall überprüft wird. […] Alle andren Interessierten – jedoch nicht die NA-Einwohnern – lügen die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft schamlos an, dass die Tschetschenen, entsprechend ihren Traditionen, die Körper der Verstorbenen zur Exhumierung einfach nicht freigeben und daher die Ermittlung keine Möglichkeit hat voranzukommen. […]

Allerdings hat sich rausgestellt, dass die NA-Bewohner, so schwer es ihnen auch fällt, darum BITTEN, FLEHEN, VERLANGEN, dass die erforderlichen Exhumierungsmaßnahmen durchgeführt werden, sie bestehen darauf, dass aus den Körpern endlich die Hauptbeweisstücke – die Kugeln – rausgeholt werden. […] Aber auf all diese beharrlichen Forderungen antwortete man mit einer spöttischen Grässlichkeit: in die Siedlung kam doch noch ein Team von militärischen Gerichtsmedizinern, um den Menschen einige Unterlagen zur Unterschrift vorzustrecken, die im Voraus erstellt wurden. Diese besagten, dass die Familienangehörige die Exhumierungen verweigern. […]
Einige einfache Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, die aus irgendwelchen Gründen, zu verschiedenen Zeiten, an den Ermittlungen im Fall der NA-Tragödie beteiligt waren, haben, unter der Garantie einer vollen und ewigen Anonymität, einem „Gespräch“ zugesagt. […] Wenn man zulassen würde, dass der Fall des NA-Albtraums bis zum Schluss aufgedröselt wird bis zur Vorlage der Anklage an konkreten Militärs, werden nach dem NA-Fall, ist man in der Generalstaatsanwaltschaft der Meinung, unbedingt weitere ähnliche Fälle folgen. Dieselben Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft erzählten auch von ihrer eigenen Angst: angeblich werden sie auch von Offizieren bedroht […].
22.01.2001

EINE SCHRIFTLICHE BESCHEINIGUNG FÜR DIE MORDE

Sie wurde den am Leben gebliebenen Opfern ausgestellt, als die Henker in Uniform müde von dem Morden waren.
[…] Am 3. März beschloss die militärische Staatsanwaltschaft kein Verfahren einzuleiten. Am 5. März hat die zivile Staatsanwaltschaft von Grozny das verfahren in Sache der Tötung von Zivilisten eingeleitet. Am 20. März sagte Sergej JASTRSCHEBSKI (für Tschetschenien zuständiger Sprecher von Präsident Wladimir Putin): „Informationen über die Beteiligung der Militärs an dem Ereignis in NA haben sich nicht bestätigt“. […] Im Juli wurde der Fall an die Generalstaatsanwaltschaft im Nordkaukasus übertragen. Damit sind die Ermittlungen zum Stehen gekommen. […]

Woher kamen diese Tiere? Offiziell heißt es, dass es unbekannt ist. Es gibt bloß ein Dokument, […] – das Papier, unterzeichnet von dem vorübergehend stellvertretenden Militär-Staatsanwalt des nordkaukasischen Kriegsbezirks S. DOLZHENKO. Im Wunsch sich jeglicher Verantwortung, für die Ermittlungen im Fall des NA-Massenmordes zu entziehen, teilte er der Menschanrechtsorganisation „Memorial“ mit, dass die Henker nicht zu seiner Kompetenz gehören, da die „Säuberungs-Operation“ in NA am 5. Februar 2000, Mitglieder der OMON-Enheiten (russ. Отряд Милиции Особого Назначения/ Otrjad Milizii Osobowo Nasnatschenija – „Einheit der Miliz besonderer Bestimmung“) des St. Petersburger und Rjasaner-Bezirks, durchgeführt haben.

Also, erstens, die St. Petersburger und die Rjasaner Milizbeamten […] Und zweitens? […] Der Militär-Staatsanwalt versuchte sich lediglich von seinem Anteil an der Untersuchung zu entfernt, da er genau wusste, dass einer der Betrunkenen Leutnants den Opfern eine schriftliche Bescheinigung hinterlassen hat. […] Diese Bescheinigung ist ein Beweis und die Antwort darauf, wer Schuld hat […].
Hier der Inhalt der Bescheinigung: „Jungs!!! Fast diese Bewohner nicht an. Hier war die 6. Panzergrenadierkompanie des 245. Regiments…“ (und Unterschrift). Das heißt Armeemitglieder – Banditen des Ministers IWANOV ((derzeit Verteidigungsminister)). Und jetzt – wie ist dieses Papierstück überhaut ans Licht gekommen. […] Für die Kompanie war es an der Zeit nach vorne zugehen. So schenkte beim Verabschieden der erweichte Kommandeur dem Abdula SCHAIPOV nicht nur sein Leben, bevor er im Gegenzug sein Geld und das Gold seiner Frauen an sich nahm, sondern gab im auch diese „Schutzurkunde“. Dabei erklärte er, dass diese den anderen vorgezeigt werden soll, die nach ihnen kommen werden – und jene werden nicht töten. Die 6. Kompanie ging nach ihrem Halt an der Hoperskaja-Str. weiter die Straße hoch – um aufs Neue zu morden. […]
05.02.2004

ANNA POLITKOWSKAJA, BERICHTERSTATTERIN DER „NEUEN“

* Der Ermittlungsbeamte für besonders wichtige Fälle der Generalstaatsanwaltschaft Russischer Föderation am Nordkaukasus T. MURDALOV hat den Leuten Unterlagen mit folgendem Inhalt ausgestellt: „Am 5. Februar 2000 wurde in der ersten Tageshälfte, in der Siedlung Novye Aldy des Industrie-Bezirks der Stadt Grozny Tschetschenischer Republik, durch Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation, während der Passkontrolle-Maßnahmen, ein Massenmord an der friedlichen Bevölkerung der oben genannten Siedlung begangen, dabei wurde … (dann folgte der Name des verstorbenen) ermordet. In Zusammenhang mit diesen Fakten ermittelt die Hauptverwaltung der Generalstaatsanwaltschaft am Nordkaukasus.“ Der Ermittlungsbeamte hat es geschafft 33 solcher Dokument auszustellen.

Die Siedlung Novye Aldy befindet sich an der südlichen Grenze von Grozny. Vor dem Krieg wohnten hier c. 10.000 Menschen. In der Siedlung gab es eine Bibliothek, eine Poliklinik (Arztpraxis – meist mehrere Praxen in einem Gebäude, wo im Gegensatz zu einem regulären Krankenhaus keine stationäre Behandlung durchgeführt wird). In der lokalen Schule wurden anderthalb Tausend Kinder ausgebildet. Die Siedlung entstand Ende der 50-er Jahre, als die aus der Deportation zurückkehrenden Menschen hier Grundstücke bekommen haben – 500m² pro Familie. Auf diesen Grundstücken haben sie Häuser für sich und ihre Kinder gebaut, für ein zukünftiges glückliches Leben.
Über den neulichen Krieg in Tschetschenien werden die Historiker irgendwann die ausführlichen Forschungen schreiben. Darüber, was in der Siedlung Novye Aldy am 5. Februar 2000 geschehen ist, erzählen die Augenzeugen, deren Zeugnisse vom Menschenrechtszentrum „Memorial“ gesammelt wurden.

Aset TSCHADAEVA:
„ Seit Herbst 1999 bis Februar 2000 wohnte ich in der Siedlung Novye Aldy. Bis zum 3. Februar kamen die Menschen hier unter Bomben um, starben von Spliterverletzungen. „Die Arbeit“ der russischen Luftwaffe führte bei den Chronisch-Kranken und die alten Menschen zu Infarkten und Schlaganfällen. Die Menschen starben an Lungenentzündung – sie saßen monatelang in den feuchten Kellern. Im laufe von zwei Monaten haben wir, bis zum 5. Februar, 75 Menschen beerdigt.

Am 5. Februar um ca. 12 Uhr hörte ich auf der Straße die ersten Schüsse. Ich und mein Vater sind rausgegangen und sahen, wie die Soldaten Häuser anzünden. Unser Nachbar reparierte sein Dach, und ich hörte, wie ein Soldat sagte: „Guck mal, Dimitrij, der Trottel repariert sein Dach“, und der antwortete: „Hol ihn runter“. Der Soldat hat sein Gewehr hochgenommen, wollte schießen. Ich schrie: „Schieß nicht! Er ist taub!“ Der Soldat drehte sich um und feuerte eine Salbe über unseren Köpfen ab.

Dann kam mein Bruder raus, Jahrgang 1975, und wir gingen diesen Faschisten entgegen. Das erste, was sie schrieen war: „Seryj ((Spitzname – abgeleitet von dem Namen `Sergej´)) markier ihnen die Stirn grün damit das Schießen leichter fällt“. Sie haben gleich auf meinen Bruder das Gewehr gerichtet und gefragt: „Hast du an den Kämpfen teilgenommen?“ Der Bruder antwortete, dass er es nicht hat – dann haben sie angefangen ihn zusammenzuschlagen.

Für den Fall der Vergewaltigung habe ich mir eine Granate angebunden – man konnte sie für vier Zigarettenschachtel „Prima“ eintauschen.

Uns wurde befohlen sich auf der Kreuzung zu versammeln. Ich versammelte die Menschen von unserer Straße, damit wir zusammen bleiben. Allein in unserer kleinen Seitenstrasse gab es zehn Kinder, die jünger als 15 waren – der Jüngste war gerade mal 2 Jahre alt. Die Soldaten fingen schon wieder mit der Passkontrolle an, einer sagte: „Wir werden euch umsiedeln. Hat man euch, Schweinehunden ein Korridor (gemeint ist eine so genannte „Schamanov´sche Mogelei“ – vgl. den Artikel „Mord oder Hinrichtung?) gegeben!?“ Das alles wurde von anstößigen Geschimpfe begleitet.

Gerade als ich von der Kreuzung weggegangen bin, erklangen erneut die Schüsse. Die Frauen schrieen auf: „Asja, Ruslan ist verwundet, verbinde ihn!“. Ruslan ELSAEV, 40 Jahre alt, stand nach der Kontrolle neben seinem Haus und rauchte. Zwei Soldaten schossen auf ihn ohne jeglichen Grund, eine Kugel ging durch die Lunge, zwei Zentimeter vom Herz entfernt, die andere – traf seinen Arm…!“.

Ich und mein Bruder gingen wieder auf die Straße und hörten wieder das laute Geschrei: die Nachbarin Rumisa führte ein Mädchen. Das war die neunjährige Lejla, Tochter einer Flüchtigen aus dem Dorf Dzhalka. Lejla viel hysterisch auf die Erde, rollte sich, lachte und schrie auf tschetschenisch und auf russisch: „Meine Mutter wurde umgebracht!“. Mein Bruder nahm sie auf den Arm und brachte sie in unser Haus. Ich lief in den Hof [das der Nachbarn] – dort lang Lejlas Mutter in einer Blutlache, von der in der Kälte noch der Dampf hochstieg. Ich wollte sie anheben, dabei fiel sie auseinander, ein Teil des Schädels viel ab – vielleicht hat eine Maschinengewehr-Salbe sie durchgeschnitten… Im Hof nebenan lagen zwei Männer, beide hatten große Löcher in ihren Köpfen, anscheinend wurden sie durch Nahschüsse getötet. Das Haus brannte schon, die hinteren Zimmer, gleich in dem ersten brannte Avalu. Offenbar hat man auf ihn irgendeine brennbare Flüssigkeit ausgegossen und angezündet. Ich holte eine Vierzig-Liter-Flasche mit Wasser herbei, ich weiß nicht, wie ich diese anhob und sie (auf Avalu) ausgoss. Ehrlich gesagt, wollte ich den Körper von Avalu nicht sehen, es ist besser, wenn er lebendig in Erinnerung bleibt – er war ein ausschließlich freundlicher Mensch. Die Nachbarn kamen angelaufen, sie haben ebenfalls angefangen den Brand zu löschen. Der zwölfjährige Mohamed ging durch den Hof und wiederholte: „Warum haben sie das gemacht?!“ Wegen des Blutgeruchs war es einfach unerträglich…

Ich lief zurück auf der Hauptstraße, dort könnte jeden Moment geschossen werden, sodass man sich durch die Höfe fortbewegen musste. Ich sah Mohamed GAJTAEV – er war ein Invalide, in seiner Jugend geriet er in einen Unfall, er hatte keine Nase und trug daher eine spezielle Brille. Er lag da, man hat ihm in den Kopf und in die Brust geschossen, und die Brille hing am Zaun.

Die russischen Soldaten gaben meinen kranken, verwundeten friedlichen Menschen, den Greisen und den Frauen, den Todesstoß.

Lema AHTAEV und Isa AHMATOV wurden verbrannt. Wir fanden später ihre Knochen, und packten sie in ein Kochtopf. Und eine beliebige Kommission, eine beliebige Expertise kann beweisen, dass es menschliche Knochen sind. Nur interessiert sich niemand für diese Knochen, für diese Ermordeten.

Schamhan BAJGIRAEV wurde ebenfalls verbrannt, er wurde aus dem Haus geholt. Die Brüder INDIGOV wurden gezwungen in den Keller runterzugehen und dann mit Granaten beworfen – einer hat überlebt, der andere wurde in Stücke gerissen. Ich sah Gula HAJDAEV, den ermordeten Greisen. Er lag draußen in einer Blutlache. Die Soldaten ermordeten die achtzigjährige Rakijat AHMATOVA – zuerst verwundeten sie sie, danach gaben sie ihr, als sie auf dem Boden lag, den Todesstoß. Sie schrie: „Schießt nicht!“…

Marina ISMAILOVA
Morgens, am 5. Februar ging die Schießerei los, man hörte Gewehre, Maschinengewehre und Granatenwerfer… Sie töteten und verbrannten Menschen, ohne sie nach ihren Dokumenten zu fragen. Bei den ermordeten und den Verbrannten in den Taschen oder in den Händen waren ihre Pässe und/oder andere Unterlagen. Die hauptsächlichen Forderungen waren – Gold und Geld, danach folgte die Erschießung…
Im Haus 158 der Matsch-Mazaev-Str. blieben zwei Brüder im Rentenalter zurück, die MAGOMADOVs – Abdula und Salman. Sie wurden in ihrem Hof lebendig verbrannt. Erst Tage später, nach erheblichen Bemühungen, fanden wir ihre Überreste. Sie passten in eine Plastiktüte…

Luisa ABULHANOVA:
Alles geschah sehr schnell. Als die Schüsse erklangen wurde mir schlecht. Genau erinnern kann ich mich nur daran, dass diejenigen, die in unser Hof kamen, zuerst Geld Forderten. Der alte Mann [Ahmed ABDULHANOV] ging irgendwohin und brachte 300 Rubel. Die Soldaten blieben unzufrieden, sie schimpften… Danach erklangen die Schüsse. Zusammen mit meinem Schwiegervater starben ((die Geschwister)) Bruder und Schwester ABDULMEZHIDOVs, unsere Nachbarn. Isa AHMATOV wurde erst Tage nach dem Geschehen, in dem Haus der ZANAEVs, aufgefunden. Er wurde anscheinend lebendig verbrannt …

Ich weiß nicht, wann und wie dieser Krieg enden wird. Wie viele Opfer noch auf den Altar des Präsidenten PUTIN gebracht werden. Ich weiß nur, dass nach all diesen Grässlichkeiten, ich mich den Russen gegenüber nicht respektvoll verhalten werde können. Wir werden kaum in einem Staat zusammen leben können.

„Ruslan“ (der Name wurde auf seine Bitte geändert):
Morgens am 5. Februar reparierte ich gerade mein Dach, als ich sah, dass am Anfang der Siedlung ein Haus Feuer fing. Nach ihm ging der Zweite in Flammen auf, der Dritte, Schüsse fielen, Menschen schrieen. Die Föderalen waren im reifen Alter und hatten Kopftücher an. Sie haben alle auf die Kreuzung der Kaskaja-Str. und des 4-ten Almaznyj-Wegs gescheucht.

Angefangen haben sie mit der ersten Straße an und gingen in das Haus der Brüder IDIGOVs rein. Die Brüder haben sie in den Keller gescheucht und darein zwei Granaten geworfen. Einer blieb am Leben, weil der andere ihn mit sich selbst zudeckte. In dem benachbarte Haus erschossen sie drei: einen alten Mann, 68 Jahre alt und zwei junge Burschen. Sie wurden nicht nach Dokumenten gefragt. Geschossen wurde streng in den Kopf.

Häuser wurden verbrannt. Menschen hörten Schrei: „Wo ist das Geld!?“. Die MAGOMADOV-Brüder wurden in den Keller geschmissen, beschossen und angezündet. Das Feuer hat sich auch auf andere Häuser verteilt… Die Leichen, die ich beerdigt haben, waren verschiedenen Alters, von jungen Menschen bis zu sehr alten Greisen, aber es gab viele, bei denen es unmöglich war das Alter festzustellen.

Malika LABAZANOVA:
… Und dann fingen sie zu schießen an. Sie schrieen dabei, dass sie einen Befehl zu töten haben. Ich lief zu den Nachbarn, klopfte am Tor – niemand öffnete. Nur Alu DENIEV kam raus und brachte mir drei Hundert-Rubel-Scheine. So gehe ich mit diesem Geld, komme an mein Tor und sehe: meine Katze geht, ihre Gedärme sind rausgefallen. Sie geht ein Stück und hält an, geht noch ein Stück und hält wieder an, und dann stirbt sie. Meine Knie sind sofort weich geworden, ich dachte, dass alle bei uns im Hof umgebracht wurden…

Als ich diesem, im weisen Tarnmantel, die 300 Rubel vorstreckte, lachte er nur: „Das ist doch kein Geld. Ihr habt alle Geld und Gold, – sagte er. – Du hast auch Goldzähne“. Vor Schreck holte ich meine Ohrringe raus (die hat mir meine Mutter zu meinem Sechzehnjährigen gekauft), reiche sie rüber und bat mich nicht zu töten. Aber er schrie, dass es befohlen ist alle umzubringen, rief einen Soldaten herbei und sagte ihm: „Bring sie ins Haus und schüttle sie dort durch“.

Im Haus stürzte ich sofort in den Heizungsraum, dort habe ich mich hinter dem Offen versteckt. Das war das einzige, was ich in dieser Situation machen konnte. Und der, der mich begleitete, ging wieder raus. Er suchte nach mir. Da er mich nicht gefunden hat, kehrte er wieder in das Haus zurück. Und hier fing das Schießen im Hof an. Ich stürzte zu dem Soldaten, fing zu betteln und flehen an, dass er mich nicht umbringt. „Bringe ich dich nicht um, bringen sie mich um“, – sagte er. Dabei hat mich so eine Angst ergriffen, dass ich bereit war den Beschuss und die Bombardierungen – alles, was vor diesem Tag war – wieder aufs neue zu erleben, nur damit dieser Soldat, das auf mich gerichtete Gewehr runternimmt.

Er fing an zu schießen: in die Decke, in die Wände, hat den Gasherd durchgeschossen. Und da verstand ich – er wird mich nicht erschießen. Ich griff nach seinen Beinen und bedankte mich, dass er mich nicht getötet hat. Darauf er: „Sei still, du bist schon tot“.

Jusup MUSAEV:
Soldaten kamen in den Hof rein, wir wurden mit dem Gesicht auf den Boden gelegt. Sie schimpften anstößig: „Ihr Huren, legt euch hin, Dreckspack!“. Dem Vetter Hasan MUSAEV haben sie die Gewehrmündung neben dem Ohr rangestellt, da lag auch Andi AHMADOV, ihn haben sie aufs Korn genommen. Weiter entfernt lagen der Junge und ich, mir haben sie die Gewehrmündung zwischen den Schulterblättern rangestellt…

Danach gingen die Soldaten weiter durch die Höfe, man hörte Schüsse,. Ich dachte an meine Brüder, ging auf die Straße, um nach ihnen zu schauen und fand sie sofort… Und vier weitre Menschen – Alvi GANAEV, zwei seiner Söhne – Sulumbek und Aslanbek, der vierte war – HAKIMOV. Als wir begonnen haben die Leichen in den Hof reinzuschleppen, fingen die Militärs an zuschießen… Am Abend kam mein Cousin und sagte, dass er weitere neun Leichen gefunden hat. Unter ihnen – zwei meiner Neffen.

Aussage einer Frau, die gebeten hat ihren Namen nicht zu nennen:
Ich lief auf die Matsch-Mazaev-Str., sehe – dort liegen erschossene Menschen. Auf der Straße standen nur die Militärs. Ich lief zurück, aber sie schrieen mir zu: „Bleib stehen!“. Ich rannte, und sie schossen auf mich.
Als ich zu mir kam, setzte sich ein Soldat zu mir und sagte: „Wie soll ich Sie bloß retten? Ich möchte nicht, dass Sie umgebracht werde. Sie sehen meiner Mutter ähnlich“. Er rief seine Jungs herbei und sie saßen mit uns…
Nachts trugen wir die Leichen in die Häuser. Ich sah 28 Leichen – alles unsere Nachbarn. Ich wusch die Leichen. Es wurde hauptsächlich in den Kopf geschossen – in die Augen, in den Mund. Bei der GADAEVA gab es eine Schusswunde am Hinterkopf.

Marhata TATAEVA:
Am 5. Februar saßen wir zusammen mit der Nachbarin Anjuta ((Eine Verniedlichungsform von dem Namen `Anna´)). Sie guckte auf die Straße raus. Ich fragte: „Was ist da?“ Sie sagte: „Da werden Menschen hingerichtet“, – und fing an zu weinen.
Ich ging raus, dort stand unser Nachbar Abdurahman MUSAEV und schrie: „Na, du Hure, was stehst du rum, – schieß!“. Die Soldaten lachten, MUSAEV schrie: „Du Hure, schieß endlich! Was stehst du rum, Dreckskerl, – schieß!“. Es stellte sich raus, dass er auf seien Enkel gestoßen war, der dort erschossen lag.

Das waren Vertragssoldaten. Einer hatte eine Tätowierung, und hinten an seiner Mütze war ein Fuchsschwanz. Er stand da und lachte, dann sah er mich und schoss direkt in meine Richtung! Anjuta schnappte mich und schob mich in das Haus, so hat er uns nicht getroffen. Wir rannte durch die Höfe zu Anjutas Haus, dort saßen wir zwei Stunden. Dann entschloss ich mich nach Hause zu gehen, obwohl sie mich bat zu bleiben.

Ich ging in das Haus rein, fünf Minuten Später kam mein Hund angeflogen, er bellte sehr laut. Das war´s, sie kommen. Ich sprach ein Gebet. Danach habe ich die Arbeitskleidung angezogen, um bemitleidenswerter auszusehen. Ich öffnete die Tür und als ich mich gerade hindrehte, kam der mit dem Gewehr auf mich zu: „Hey du Hure, komm her!“ Ich kam näher und wollte meine Dokumente vorzeigen – ich habe überhaupt nicht die Fassung verloren. Aber er suchte nach einem Grund, um mich durcheinander zu bringen: „Aha, bist du ein Scharfschützin, hast du den (tschetschenischen) Kämpfern geholfen, warum bist du zuhause geblieben? Warum bist du nicht weggefahren, was hast du hier gemacht? Wo sind deine Eltern, im Haus, ja?“ Ich sagte: „Nein, sie sind weggefahren“. – „Wohin sind sie gefahren? Was hast du da?“ Ich sagte: „Dokumente“. Und er: „Ich brauche deine be……nen Dokumente nicht!“ – nahm sie und warf diese hin. Ich hatte da noch ca. 35 Rubel. „Das brauchst du auch nicht! An die Wand! Erschissen wir sie, und das war´s dann!“. Er lud das Gewehr und richtete es auf mich. Da sagte ein andere zu ihm: „Lass sie, das muss nicht sein! Es ist besser wenn das Mädchen sich versteckt. Sonst finde die sie, vergewaltigen und bringen sie doch um. Es ist besser das Mädchen zu retten, schade um sie, sie ist doch jung!“

Sie gingen weg und ich sagte zu Anjuta: „Ich kann nicht mehr, ich möchte mich verstecken“. Aber wohin verstecken? Wir setzten uns in den Kleiderschrank. Da hörten wir – die Tür wird aufgemacht, sie kommen. Anjuta sagte: „Das war´s, wir können nirgendwo hin“. Aber die schossen im Hof aus dem Gewehr, und schrieen: „Ihr Huren, kommt raus!“. Als sie das Magazin leergeschossen haben, dachte ich – das war´s, ich werde meine Mutter nicht mehr wiedersehen, niemanden werde ich wiedersehen. Da fing auch ich an zu weinen.

Wie wir dem entkommen sind – weiß ich nicht, aber die sind weggegangen. Wir blieben am Leben.

Makka DZHAMALDAEVA:
Sie haben uns vier hingestellt: meinen Mann, mich, meinen Sohn und die Enkelin, sie stand neben mir. Sie beschimpften uns wie sie wollte, sagten, was sie wollten, stanken unerträglich nach Wodka. Sie waren dermaßen betrunken – die haben sich kaum auf den Beinen gehalten. Als meinem Mann gesagt wurde: „Alter, gib da Geld raus, Dollar, alles was du hast“, holte er etwas über ein Tausend Rubel raus und gab ihnen das Geld. Als der eine das Geld zählte, sagte der andere: „Alter, wenn du nicht noch mehr gibst, erschieße ich dich“, sie beschimpften den alten Mann.

Dann holte ich meine Ohrringe raus, die Enkelin – ihre, ich gab sie ihm: „Söhnchen, hier, bitte, nimm das, lass uns am Leben“. Da sagte er wider zu meinem Sohn: „Ich schieß dir gleich in das Auge“. Als er das sagte, sprach mein Mann: „Söhnchen, er hat sechs kleine Kinder, bring ihn nicht um, ich habe nur ihn“. Und der: „Wenn ihr mir nicht noch ein Gramm Gold gebt, dann erschießen wir euch alle“. Mein Sohn hatte (Gold) Kronen, er holte diese Zähen raus, wir gaben sie ihm. Er schimpfte noch kurz, drehte sich um und ging. Er war betrunken, hat es kaum geschafft aus unserem Hof rauszukommen…

Luisa ABULHANOVA:
Das Ergebnis dieses Krieges. Am 5. Februar sahen wir die Terroristen mit unseren eigenen Augen, haben es selbst durchlebt. Man sagt uns, dass der Krieg beendet ist. Wie kann er für uns beendet sein, wenn wir diesen Tag niemals vergessen werden können?

Fünf Überlebende wendeten sich an Straßburg

Alexander PODRABINEK am 30.07.2007 in der Novaja Gaseta

Den Originalartikel finden Sie dort unter Новые Алды: забыть не удастся

Übersetzung: Andreas ENGELHARDT

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Anna POLITKOVSKAJA 2005: Das Ausland / der Westen wird uns zuwinken

Straßburg schafft es nicht, die aus Russland kommenden Klagen abzuarbeiten. Jetzt folgt eine weitere – aus der Siedlung Novye Aldy. Die Opfer des Massakers, die verzweifelt eine Untersuchung dieser Tragödie in Russland versuchen zu realisieren

Nach Aussage des vorübergehend stellvertretenden Militärstaatsanwalts vom nordkaukasischen Militär-Bezirk, des Oberst der Justiz S. DOLZHENKO: „die Operation einer s. g. ‚Säuberung‘ in der neuen Siedlung Aldy am 5. Februar 2000… führten die Mitarbeiter der OMON (Spezialeinheit, russ. Отряд Милиции Особого Назначения / Otrjad Milizii Osobowo Nasnatschenija – „Einheit der Miliz besonderer Bestimmung“) der Hauptabteilung für Innere Angelegenheiten der Stadt St. Petersburg und des Rjasaner Bezirks durch“. Nach Aussagen der Augenzeugen waren Soldaten des 245-ten Regiments des Verteidigungsministeriums ebenfalls daran beteiligt.

Das Massaker von Novye Aldy – die schrecklichste Seite des zweiten Tschetschenien-Krieges

Am 5. Februar geschah in Novye Aldy ein Massenmord. Von hauptsächlich alten Menschen, die geblieben waren um ihre Häuser zu bewachen. Die Mehrheit von ihnen dachte, dass sie nichts zu befürchten haben. Dennoch haben die Soldaten des Verteidigungsministeriums und des Innenministeriums eine Schlacht in der Siedlung veranstaltet. Nach den einen Angaben, sind dabei 55 Menschen gestorben – nach den anderen 42. Und das in wenigen Stunden.

Die Menschen in Tschetschenien nennen die NA-Tragödie manchmal „Eine Hinrichtung im Namen der ersten PUTIN-Wahlen“. Es geschah zu Zeiten seiner ersten Wahlkompanie, als überall die Karte der „Anti-Terror-Operation“ ohne Angst und Tadel ausgespielt wurde, und die Staatsanwaltschaft alles dafür tat, damit es „keine Horror/Entsetzlichkeiten gibt“, das heißt: nicht ermitteln, vertuschen, Beweise vernichten. Einen besonderen Beitrag zur Ausführung des politischen Auftrags – zur Nicht-Aufdeckung dieses Strafverfahrens – hat Herr TSCHERNOV beigetragen, der viele Jahre als Staatsanwalt von Tschetschenien arbeitetete.

Die Familien der Hingerichteten wollen dennoch wissen, wer konkret schuldig ist. Mit den Jahren erlischt dieser Wunsch auch nicht. Im Februar sind bereits fünf Jahre seit der Tragödie vergangen. Zum vierjährigen Jubiläum hat unsere Zeitung im Detail berichtet, was damals passiert ist. Darauf haben die Bevollmächtigten für Menschenrechte und Ella PONFILOVA, die zu dem Präsidenten gehört, reagiert. Im Ergebnis kamen in die Siedlung viele Menschen von der Staatsanwaltschaft (SA), unterschiedlicher Ebenen (SA von Tschetschenien, SA des südlichen föderalen Bezirks, General-SA) und sie haben scheinbar erneut die Untersuchungen aufgegriffen. Die Bewohner von Novye Aldy – Familienangehörige der Verstorbenen und wie durch ein Wunder überlebende Zeugen – waren begeistert darüber und bekamen wieder Hoffnung. Dass es endlich mit dem Fall vorwärts geht. Dass man die Schuldigen auf Grund der vielen Indizien und Beweise findet, die die Menschen immer noch aufbewahren, in der Hoffnung, dass irgendjemand daran Interesse zeigt. Dass die Familienangehörigen der Hingerichteten als Opfer anerkannt werden und das man es schafft, den Fall bis vor das Gericht zu bringen.

Aber auch dieses Mal hat sich der Simpf unserer Strafverfolgung schnell wieder zugezogen. Im Endeffekt beschlossen die sehr geduldigen Aldyner (NA-Einwohner) alle Unterlagen zu sammeln und diese nach Straßburg zu schicken. Es gab schon mal so einen Versuch – vor etwa drei-vier Jahren. Die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ sammelten von den Familienangehörigen der Verstorbenen Vollmachten um das Recht zu besitzen, die Fälle vor das Europäische Gericht zu bringen.

Aus unerklärlichen Gründen sind jedoch nur zwei dieser Fälle bis Straßburg gekommen: „MAGOMADOV gegen Russische Föderation“ (Nr. 58699/00) und „LABOZANOBA gegen Russische Föderation“ (Nr. 60403/00). Sie haben schon die Kommunikation in Straßburg abgeschlossen (das heißt, sie wurden angenommen). Im Endeffekt haben die NA-Einwohner den Prozess der Unterlagenübermittlung in ihre eigene Hände genommen, indem sie zwei von sich als Vertreter nach Moskau schickten. Die Anwältin Lejla HAMZAEVA hat ihnen bei der Erstellung der Papiere geholfen und am 1. April ist die Portion – bestehend aus 31 Fällen, deren Inhalt derselbe ist, lediglich die Namen und die Hausnummer, wo die Morde stattfanden, unterscheiden sich – nach Europa gegangen.

Wie wird es weitergehen für die leidgeprüften Aldyner? Was wird Straßburg antworten? Und was kann Straßburg überhaupt im Kampf mit dem Kreml tun? Das ist keine leere Frage, sonder eine konkrete. Ja, Straßburg ähnelt heutzutage zunehmend mehr der SA der Russischen Föderation. Sie SA wird mit Post aus Russland zugeschüttet. Es fehlt an Personal, um mit diesen Mengen fertig zu werden. Das weiß jeder, der sich dafür interessiert.

Es gibt zwei Resultate. Das Erste: Europa ist nicht in der Lage das rechtslose Russland zu verdauen. Es hat nicht die nötigen Ressourcen. Im Ergebnis stellt Straßburg eine Schallplatte für Läufer dar, die auf sehr langer Distanz laufen und bis zum Ende überleben. Denn wenn nach fünf Jahren von dort eine Forderung die Russische Föderation erreicht, eine unvoreingenommene Untersuchung durchzuführen und den Familien der Hingerichteten eine Kompensation für zehn Jahre des Wartens auszuzahlen, wäre das sehr gut. Sehr gut. Aber dann werden wir auch eine andere Regierung haben. Und einen anderen Präsidenten, der sich für seinen Vorgänger nicht verantworten muss. Und die Spur der föderalen Mörder wird wahrscheinlich aufgrund der langen Zeitdauer endgültig kalt sein. Und unter den Opfern wird es natürlich Verluste geben.

Es ist kein Pessimismus, kein Versuch jemandem davon abzuraten seinen Fall an Straßburg zu überreichen – auf keinen Fall, man es dorthin reichen. Jedoch sieht so die Realität aus.

Es gibt ein zweites Resultat der Straßburger Prozeduren. Als man uns den Weg dorthin freigab, dachten viele: die schreckliche Situation, in der sich die Menschenrechte in unserem Land befinden, wird sich von selbst zum Besten regeln. Die Obrigkeit Angst würde vor dem auf sie stürzenden Rückfluss an Gerichtsurteilen aus Europa und den Geldern bekommen, die sie an die Bürger zahlen müsste, die der der Staat nicht zu beschützen in der Lage ist.

Aber das Geld ist ja nicht ihres, sondern unseres – aus dem Budget. Die Obrigkeit zahlt. Die Summen sind mittlerweile riesengroß, aber die Obrigkeit erzieht sich noch immer nicht um. Da spuckt sie drauf – das Geld ist nicht ihres. Kein persönlicher Geldbeutel von irgendeinem Staatsanwalt oder Ermittlungsbeamten ist für ihre schlampige Arbeit, die die Menschen dazu gezwungen hat sich an Straßburg zu wenden, zu Schaden gekommen. Alles wurde von den Steuergeldern gedeckt.

Wie sich herausstellte, hat der Kreml auch vor einem schlechten Image keine Angst. So hat sich Straßburg vor unseren Augen in ein Kissen der Tränen aller Gedemütigten und Verletzten aus Russland verwandelt, mehr nicht. Die Obrigkeit hingegen guckt desinteressiert von oben herab: ja, heult doch, dann zahlen wir eben… Mehr nicht. Es ist offensichtlich, dass der Kreml auf die erzieherische Maßnahmen Straßburgs nicht einlässt. Im Gegenteil: er steigert seinen Angriff auf unsere Rechte von allen gerichtlichen Richtungen.

Also, was tun? An wen oder was soll der russische Mensch appellieren, wenn nicht an Straßburg?

An sich. An sich selbst. Genug der Hoffnungen, die man in Europa setzt. Solange wir selbst nichts an der Situation unseres Strafverfolgungssystems ändern, wird sich keiner für uns einsetzen. Die Straßburger Praxis hat es bereits bewiesen. Sie sind gut, jedoch ist es nicht ihr Problem. Es ist an der Zeit die eigenen hohen menschlichen Qualitäten zu demonstrieren.

Anna POLITKOVSKAJA in der Novaja Gaseta am 07.04.2005

Den Originalartikel finden Sie dort unter ЗАГРАНИЦА НАМ ПОМАШЕТ

Übersetzung: Andreas ENGELHARDT

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Anna POLITKOVSKAJA 2004: Eine schriftliche Bescheinigung für die Morde

Als die Henker in Uniform müde vom Töten waren, stellten sie den am Leben gebliebenen Opfern aus Novye Aldy einen schriftlichen Beweis für ihre Morde aus

2000, kurz vor den ersten Wahlen Putins – fand das Massaker von Novye Aldy statt. In der tschetschenischen Siedlung nahe der Hauptstadt Grozny ermordeten föderale Truppen des Ministeriums für Verteidigung und Inneres (bzw. für innere Verteidigung) 55 unschuldige Menschen. Innerhalb mehrerer Stunden wurden hauptsächlich alte Leute auf barbarischste Art und Weise eliminiert. Das Massaker von NA wurde zum schrecklichsten Ereignis des zweiten Tschetschenienkrieges.

Das Massaker blieb ohne Folgen. Das mühsam eingeleitete Strafverfahren wurde ausgebremst. Die Mörder spazieren immer noch im Freien. Auf die Zeugen, die überlebten, und die Familienangehörigen der Getöteten wird Druck ausgeübt. Sie sind verängstigt. Die Zivilgesellschaft schweigt.

Zurzeit finden wieder die Wahlen von Putin statt. Was denken die Menschen über diesen Mann, dessen Präsidentschaft sie zu Opfern werden ließ? Zumal seine Präsidentschaft ganz auf diesen „Erfolgen eines kleinen siegreichen Krieges“ aufgebaut war. Das soll diese Reportage aus Novye Aldy im Februar 2004 beschreiben.

Das Dossier
NA ist eine Siedlung am südlichen Stadtrand von Grozny. Sie entstand nach der Rückkehr der deportierten Tschetschenen aus dem alten Dorf Aldy, dessen Häuser besetzt waren. Vor dem zweiten Tschetschenien-Krieg gab es hier etwa 10 Tausend Einwohner. Seit Anfang Dezember 1999 war das Gebiet von Novye Aldy ständigen Beschuss und Bombardierungen aus der Luft ausgesetzt, obwohl es hier keine Positionen/Stellungen von militanten Kräften der Gegenseite gab. Bis Anfang Februar 2000 wohnten die Menschen in ihren Kellern und gingen nur um Wasser zu holen nach draußen. In dem Zeitraum bis zum 4. Februar sind durch den Beschuss 75 Menschen ums Leben gekommen.

Am 3. Februar gingen mehrere Dutzende Bewohner von NA unter weißen Fahnen an die Positionen des 15. Infanterie-Regiments, dessen Kommandeur versprach nicht mehr zu schießen.

Am 4. Februar kehrte in die Siedlung völlige Stille ein. Die Menschen gingen aus Ihren Kellern raus und fingen an ihre Häuser zu reparieren.

Morgens, am 5. Februar fing die Säuberung (Säuberung bedeutet, eine militärische Aktion, die zum Aufspüren von Terroristen durchgeführt wird) an. Ein Teil der Truppen marschierte vom Süden in die Siedlung ein. Sie plünderten, aber töteten niemanden. Die Einheiten, die vom Norden kamen, plünderten und mordeten. Viele Menschen wurden um ihr Geld, Goldschmuck- und (Zahn)Kronen erpresst, bevor man sie erschoss. Anfangs haben die Bewohner von NA die Toten nicht begraben. Sie warteten auf die Staatsanwaltschaft. Am 9. Februar haben sie die Opfer vorübergehend beerdigt.

Am 3. März beschloss die militärische Staatsanwaltschaft, kein Verfahren einzuleiten.
Am 5. März leitete die zivile Staatsanwaltschaft von Grozny das Verfahren wegen der Tötung von Zivilisten ein.

Am 20. März behauptete Sergej JASTRSCHEBSKI (für Tschetschenien zuständiger Sprecher von Präsident Wladimir Putin): „Die Informationen über die Beteiligung der Militärs an dem Ereignis in NA haben sich nicht bestätigt“. In der zweiten Aprilhälfte wurden die Exhumierungen und Umbettungen der Toten vollzogen. Im Juli wurde der Fall an die Generalstaatsanwaltschaft im Nordkaukasus übertragen. Damit sind die Ermittlungen zum Stehen gekommen.

Die goldene Hochzeit
Wir betreten den Hof einer kleinen, gebeugten, alten Dame. Ajna ABULHANOVA stellt sich an eine Stelle des Hauses mit der Nr. 135, in der Matasha-Mazaev-Sraße. Hier hatten sie damals die Soldaten gezwungen zu stehen. Sie brachen in den Innenhof ein und reihten alle an diese Wand. Ajna zeigt, wo sich ihnen gegenüber die MG-Schützen aufstellten und ihre Nichte Madina mit ihrem neunjährigen Sohn Islam schikanierten. Sie deutet auf das, was die Soldaten in Brand gesetzt haben – eigentlich alles.

„Uns ist nur ein Sessel übrig geblieben. Sonst gar nichts. Alle Nutztiere wurden verbrannt. Häuser. Getreide. Ich bat die Soldaten: „bringt unseren Hund nicht um“. Ich sagte: „Sie ist besser als jeder Mensch“. Und sobald ich sie darum bat, haben sie sie auf der Stelle erschossen. Was sind das bloß für Menschen?“

Ajna sieht aus wie ein Kind, sie ist kleiner als die Fensteröffnung. Sie bleibt mit den Armen an den Seiten nach unten gerichtet stehen – „so wie damals“. Und ich stehe an derselben Stelle, wo die Soldaten standen, bereit zum Schießen.

„ Wir haben uns für die goldene Hochzeit vorbereitet“ – sagt Ajna.
Ahmed, Ajnas Mann, den sie noch während der Deportation geheiratet hat, mit dem sie hierhin zurückgekommen ist und dieses Haus in NA aufgebaut hat, wollte für das Jubiläum eine schöne Feier.

Später wird Ajna ihren Mann Ahmed beerdigen, genau an ihrem Jubiläumstag – am 9 Februar.
Die Soldaten haben Ajna, ihre Nichte und deren Sohn begnadigt, weil sie von ihrer Einheit in den benachbarten, anschließenden Hof gerufen wurden – doch Ahmed nahmen sie mit dorthin.
Schwarze Schafe

„Hierhin, aus dem Tierstall, gingen unsere schwarzen Schafe. Und starben beim gehen. Ich kann irgendwie deren Geschrei nicht vergessen. Und meine Katze – wie die Soldaten ihr die Gedärme rausrissen“ – erzählt Malika LABAZANOVA.

Es war ihr Hof (Hausnummer 20. am dritten Zimljanskij-Weg), zu dem die Soldaten aus dem Hof gelaufen sind, wo die Greisin Ajna vor den Gewehren stand, und genau hier wurde, ohne zu reden, der alte Ahmed erschossen. Seine Geschwister Zina und Husejn ABDULMEZHIDOV, die wegen des Geschreis nach draußen gelaufen waren, wurden auf die gleiche Weise ermordet.

Malika selbst hat zufällig überlebt. Mit ihr hatte ein Soldat Erbarmen. Sein Vorgesetzter befahl ihm, mit Malika ins Haus zu gehen und sie dort umzubringen. Im Haus suchte Malika Schutz hinter dem Ofen und umarmte die Beine des Soldaten: „Schieß nicht“. Doch der Soldat fing an, in alle Richtungen zu schießen und, als sie, nichts mehr wahrnehmend, mit neuer Kraft aufschrie: „Schieß nicht!“, – sagte er plötzlich leise: „Sei still. Du bist schon tot“.

Als die Soldaten weggingen, nachdem sie drei Leichen hinterlassen und etwas Kompott getrunken haben (i.d.R. ein selbstgemachtes Getränk aus Früchten), von dem sie sich aus Malikas Haus bedient hatten, zündeten sie noch den Stall mit den Tieren an.
„Ich ging raus und sah, wie unsere Kühe aufplatzten. Und sie schrieen so …“ – sagt Malika: „Dieses Geschrei steht mir ständig in den Ohren.“

Malika ist Leiterin des öffentlichen Komitees „Aldy“, das von den Familienmitgliedern der Verstorbenen kurz nach dem Massaker in der Siedlung ins Leben gerufen wurde. Zuerst waren Malika und das Komitee aktiv, sie forderten Aufklärung bzw. ein Verfahren. Dafür erklärten sie sich mit einer Exhumierung einverstanden – was für Muslime sehr schwer ist. Doch dann kam alles zu stehen. Auf Grund dessen, was geschehen ist, nicht in der Lage diese Last zu tragen, erkrankte Malikas Sohn an einer schweren Form der Anämie – Malika hörte mit ihrer sozialen Tätigkeit auf. Nun backt sie in der Siedlungs-Bäckerei Brot, von morgens bis abends, um genug Geld für die medizinische Versorgung ihres Sohnes zu bekommen. Im Haus findet man Armut und Medikamentenverpackungen vor. Als ich an Malikas Haustür klopfte, war sie in der Bäckerei. Nur ihr erkrankter Sohn war zuhause. Er erschrak dermaßen vor einem unbekannten Gesicht, dass er sich — wie sich später herausstellte – direkt an der Tür leise auf den Boden setzte und lautlos in ein Zimmer kroch, nur damit ihn niemand bemerkte.

Malika ist überzeugt, das für die grausame Behandlung, die an ihr verübt wurde, niemand im heutigen Russland bezahlen wird, und kehrt dann im Gespräch mehrmals zu den schwarzen Schafen und den geplatzten Kühen zurück: „Nein, mal ehrlich, gibt es die Möglichkeit sie für Tierquälerei zu bestraffen? Vielleicht müssen wir darauf in den Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft plädieren?“

Warmes Blut
Tabarik ARSAMURZAEVA – Witwe seit dem 5. Februar. Ihr Mann Avalu, Jahrgang 1946, und seine Brüder, Sulejman und Musa, entschlossen sich in der Siedlung zu bleiben, obwohl Tabarik darum flehte, wegzufahren – die Männer blieben stur. Auch der Sohn sagte fest: „Den Vater lasse ich nicht allein.“

Als die Soldaten in ihren Hof rein kamen (Haus 110, Matasch-Mazaev-Straße), wussten die Brüder schon, was weiter unten auf der Straße vor sich geht – sie sahen, dort liegen Leichen. Zu viert stiegen sie in den Keller unter der Sommer-Küche hinab. Als die Soldaten das Haus stürmten, waren sie in Sorge, dass in den Keller eine Granate geschmissen wird, daher beschloss der Sulejman (der jüngste der Brüder und unverheiratet) rauszugehen und den Schlag auf sich zunehmen. Im letzten Moment stieß Avalu Sulejman zurück. Er ging raus und wurde auf der Stelle erschossen. Nach Avalu beschloss Tabariks Sohn rauszugehen – es war klar, dass die Soldaten warten, jedoch wurde der Junge dieses Mal von Sulejman beiseitegeschoben. Er wurde ebenfalls aus nächster Nähe erschossen. Danach folgte eine Pause: die Militärs waren von dem wohlhabenden Haus abgelenkt und fingen an es zu plündern…

„Sie waren alle betrunken“ – erinnert sich Tabarik. – „Und vor Blut außer sich. Mir haben sie zum Beispiel alle schlechten Gabeln und Löffel zurückgelassen, doch die silbernen mitgenommen. Also verstanden sie was davon. Sie rissen auch die Goldkronen heraus.“

Solange die Soldaten die Wertsachen herausholten, schleppte Musa leise die Körper seiner ermordeten Brüder zu dem Kellereingang und verdeckte diesen. So haben Musa und der Sohn von Tabarik den ganzen Tag verbracht. Bis die Soldaten weg waren tropfte das Blut von Avalu und Sulejman direkt auf Musa und den Jungen. Mehrere Stunden lang. Der Keller war schmal, sodass man nirgendwohin ausweichen konnte. Musa starb wenig später: Er fing an zu Trinken und erlag einem Herzinfarkt, kurz nachdem er 50 wurde. Nach dem sie drei Söhne hintereinander verlor, verstarb im Anschluss die Schwiegermutter Halipat sowie ihre Schwester Rukijat, die mit ihnen zusammenlebte. Der Sohn von Tabarik, auf den das warme Blut seines Vaters und Onkels tropfte, die wiederum ihn und seinen Onkel Musa gerettet haben – lebt zwar, ist aber dennoch tot.

„Er regt sich nicht auf, weint nicht, schreit nicht“ – erklärt Tabarik. – „Er reagiert auf nichts mehr. Er hat sich davon nicht erholt.“

Die schriftliche Bescheinigung
Woher kamen diese Tiere? Offiziell heißt es, dass es unbekannt ist. Es gibt bloß ein Dokument, das zufällig aus dem verschwiegenen Kreis der Strafverfolgung ausbrach. – das Papier, unterzeichnet von dem stellvertretenden Militär-Staatsanwalt des nordkaukasischen Kriegsbezirks S. DOLZHENKO. Im Wunsch sich jeglicher Verantwortung für die Ermittlungen im Fall des NA-Massenmordes zu entziehen, teilte S. DOLZHENKO der Menschanrechtsorganisation „Memorial“ mit, dass die Henker nicht zu seiner Kompetenz gehören. Denn die „Säuberungs“-Operation in NA am 5. Februar 2000, führten Mitglieder der OMON-Einheiten (russ. Отряд Милиции Особого Назначения/ Otrjad Milizii Osobowo Nasnatschenija – „Einheit der Miliz besonderer Bestimmung“) der Hauptabteilung für Innere Angelegenheiten des St. Petersburger und Rjasaner-Bezirks, durch. (kurz gesagt, Spezialeinheiten der St. Petersburger und der Rjasaner Polizei)

Also, erstens, die St. Petersburger und die Rjasaner Milizbeamten. Beide, merken wir unsererseits an, wurden „für Tschetschenien“ mit Orden und Medaillen geehrt.

Und zweitens? Die Wahrheit DOLZHENKOs. Der Militär-Staatsanwalt versuchte sich lediglich von seinem Anteil an der Untersuchung zu entfernen. Denn er wusste genau, dass einer der Betrunkenen Leutnants den Opfern eine schriftliche Bescheinigung hinterlassen hat. Wie merkwürdig das auch klingen mag. Und jetzt werden er und seine Abteilungszugehörigkeit in aller Ewigkeit ganz sicher nicht vergessen.

Diese Bescheinigung ist ein Beweis. Die Antwort darauf, wer Schuld hat. Das Original bewahren die Familien der Verstorbenen wie einen geheimen Schatz auf. Sie zeigten das Papier den Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft, als diese in der Siedlung vorbeischauten. Jedoch war das den „Ermittlern“ gleichgültig. Die Bescheinigung haben sie nicht mitgenommen, und so haben die NA-Bewohner beschlossen, sie für die Zukunft aufzubewahren. Bis zu dem Tag, an dem die unabhängigen Untersuchungen anfangen, an die hier kein Mensch glaubt. Aber … sie bewahren sie auf:

Hier der Inhalt der Bescheinigung: „Jungs!!! Fast diese Bewohner nicht an. Hier war die 6. motorisierte Schützenkompanie des 245. Regiments…“ (und Unterschrift). Das heißt: Armeemitglieder – Banditen des Ministers IWANOV (derzeit Verteidigungsminister).

Wie ist dieses Papierstück überhaupt ans Licht gekommen?
Am Morgen des 5. Februar gingen der 52-jährige Jakub MUSAEV und sein Neffe, der 34-jährige Sulejman, mit der Schubkarre zum Wasser holen. Sie lebten in der Voronezhskaja-Strasse. Wie die Mehrheit der Bewohner von NA wussten sie noch nicht, dass Soldaten auf dem Weg in die Siedlung waren. Um ca. 11 Uhr morgens waren sie schon auf dem Rückweg. Sie bewegten sich auf der Hopenskaja-Straße, die senkrecht zur Voronezhskaja-Str. verläuft. Es blieben nur noch wenige Schritte bis zu der Kurve – und sie wären zuhause. Doch die Kreuzung war voller Militärs. Vom Haus des Abdula SCHAIPOV (No. 27), bis zu der Hopenskaja-Str. Sie befahlen den MUSAEVs, die Schubkarre stehen zu lassen und nach vorne zu gehen.

In diesem Moment, im Hof (Haus-Nr. 27) betrank sich der Kommandeur der Einheit, die auf die Hoperskaja-Str. über die Matasch-Mazaev-Str. (Hauptstraße der Siedlung, verläuft parallel zu der Voronezh-Str.) kam. Dieselbe Einheit, die schon die Brüder ARSAMURZAEV im Haus (Nr. 110) auf der Matasch-Mazaev-Str. getötet haben und den Mann von der alten Ajna. Sie erschossen auch Kajpa, Mutter der 9-jährigen Luisa, direkt vor den Augen des Mädchens im Hof vom Haus mit der Nr. 152 auf der Matasch-Mazaev-Str. Danach gaben sie dem Kind eine Dose Fleisch und befahlen ihr, nicht zu schreien. Weitere Opfer derselben Soldaten wurden der einjährige Hasan ESTAMIROV zusammen mit seiner im neunten Monat schwangeren Mutter Toita und sein Vater und Opa, die im Haus Nr.1 auf der Podolskaja-Str. lebten… Augenzeugen sagen: Sie haben getötet und dann alles mit Wodka heruntergespült, den sie mitgebracht hatten – der Wodka war in den BTRs (ist eine Abkürzung für Bronetranpartör – zu deutsch: gepanzerter Transporter/Schützenwagen).

Diese Soldaten also gaben den MUSAEVs den Befehl, nach vorne zu gehen. Soldaten, die vollkommen von Wodka und Blut verrückt geworden waren, die wiederum von einem betrunkenen Leutnant kommandiert wurden, der im Hof von Abdula saß und den Hausherren an die Wand gestellt hatte. Vor den Toren stand die Wache. Soldaten patroulierten entlang der Häuser bis zur Kreuzung der Hoperskaja- und Voronezhskaja-Str.

Die MUSAEVs, Jakub und Sulejman, wurden aus nächster Nähe erschossen, als sie mit dem Körper von Viktor auf derselben Höhe waren. Sie wurden dann auch so aufgefunden – nebeneinander.

Die Hinrichtungen geschahen so: die Soldaten schrien dem derzeit trinkenden Kommandeur zu, der brüllte ohne hinzugucken zurück: „Erschießen!“. Auf der Straße lag schon die Leiche von Viktor TSCHEPTURA, er war aus Groznyj, zog sich vom Krieg zurück und lebte vorübergehend im Haus Nr. 17 der Hoperskaja-Str. Viktor ging vor die Tür, kurz bevor die MUSAEVs mit dem Karren erschienen sind, er lief den Soldaten mit den Worten entgegen: „Ich – bin einer von euch“. Die hielten eine Rücksprache mit dem Kommandeur, der fragte: „Ukrainer?“. Sie befahlen Viktor nach vorne zu gehen und schossen ihm in den Rücken. Seine Leiche haben die Militärs einen Monat nach den Ereignissen ausgegraben und mitgenommen – es ist nicht bekannt wohin.

Und jetzt zu der Bescheinigung. Für die Kompanie war es an der Zeit nach vorne zu gehen. So schenkte beim Verabschieden der erweichte Kommandeur dem Abdula SCHAIPOV nicht nur sein Leben, bevor er im Gegenzug sein Geld und das Gold seiner Frauen an sich nahm, sondern gab im auch diese „Schutzurkunde“. Dabei erklärte er, dass diese den anderen Soldaten vorgezeigt werden soll, die nach ihnen kommen werden – und jene werden nicht töten. Die 6. Kompanie ging nach ihrem Halt an der Hoperskaja-Str. weiter die Straße hoch – um aufs Neue zu morden. Und so erschossen sie zum Beispiel zwei weitere MUSAEVs – Umar und Abdurahman, Jahrgänge 1928 und 1949, die sich entschlossen hatten nach draußen zu gehen, weil Sulejman und Jakub mit dem Wasser nicht zurückkamen…

„Sagen Sie mir, hätte man die Mörder finden können, zumindest durch diese Bescheinigung? Sie (die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik) verlangten von uns Bewohnern Phantombilder von maskierten Menschen … und wenn wir das nicht konnten, dann zuckten sie bloß mit den Schultern, nach dem Motto: Es gibt dann keine Zeugen…“ wiederholt mehrmals Ibrahim MUSAEV, Vater des Hingerichteten Sulejman. Die anderen verstorbenen MUSAEVS waren seine Brüder.

Ibrahim ist ein kluger und ruhiger Mensch, der jedoch jeglichen Glauben in die Gerechtigkeit und die Zukunft verloren hat. Nach dem fünften Februar ist in ihrer Familie auch noch Hasan gestorben, der Cousin von Ibrahim. Als er sah, dass sein Enkel ermordet war, ging er auf die Soldaten zu und schrie: „Na, ihr Huren, schießt doch!“. Und die Soldaten erhoben ihre Gewehre. Jedoch hat einer von ihnen Hasan auf den Boden geworfen, ihm die Gewehrmündung in das Ohr gesteckt, mit den Worten: „Gut, du kannst leben, bleib neben deinen Leuten liegen und quäle dich, weil du überlebt hast“. Der alte Hasan blieb noch lange dort liegen, dann hat er alle beerdigt und starb etwas später.

Warum sind wir nicht „Kursk“?
„Wir hören von „Kursk“ – und dass man den Leuten geholfen hat, als eine andere Tragödie passiert ist – man hat den Leuten auch geholfen. Bei uns aber – nichts“ – sagt Malika LABAZANOVA, Vorsitzende des öffentlichen Komitees „Aldy“.

Fakt ist: Unter den Angehörigen der verstorbenen NA-Einwohner gibt es nicht eine Person, die offiziell als Opfer anerkannt wurde. Generell hat niemand irgendeine Entschädigung bekommen für die Ermordeten, für die abgebrannten Häuser und anderes Eigentum. Die rechtlichen Folgen, dieses vollkommen verantwortungslosen und gleichgültigen Handelns der Staatsanwaltschaft, sind aber in der Tat konkret. Es sind nicht die Emotionen, sondern das hungrige Leben der vielen Menschen, die kurz vorm sterben sind. Zum Beispiel das der Waisen.

„Ich habe jetzt acht Kinder von meinem erschossenen Bruder, Waha ZHAMBEKOV, für die ich sorgen muss, und seine Frau, die psychisch krank wurde. Die Kinder sind eines kleiner als das andere“ – sagt Zina DAKAEVA. „In der Familie gibt es sonst niemanden. Ich sehe keine Hilfe. Ich kann noch nicht mal das Gehalt von Waha bekommen, das man ihm schuldet, er arbeitete in der Groznyer Ölraffinerie.“

Warum also? Warum ist die Generalstaatsanwaltschaft nicht dazu bereit das Offensichtliche zu untersuchen?

Warum überhaupt so etwas in unserer Zeit und unserem Raum passieren konnte – darüber wurde schon viel zu viel geschrieben, um es nochmal zu wiederholen. Es gab die ersten Wahlen, PUTIN hat noch niemand gekannt, also brauchte man einen kleinen siegreichen Krieg – das wurde organisiert, indem man die innertschetschenischen Probleme und die Einstellung der Armee nutzte. Aber warum gab es keine effektiven Ermittlungen?

Der Hauptgrund, meiner Meinung nach, ist, dass so eine Untersuchung nicht politisch-zweckmäßig ist. Da ist es praktischer, die im frei herumlaufenden Vollstrecker nicht zu bemerken, anstatt sie dem Gericht zu übergeben. Bis zum März im Jahr 2000, bis zu den ersten Wahlen brauchte man nur „Erfolge“ im Krieg. Die Administration dafür gesorgt, dass von den Misserfolgen und Hinrichtungen niemand etwas mitbekommt.

Allerdings haben die Behörden den Fall BUDANOV als ausreichend für das Gleichgewicht zwischen „Diktatur“ und „Erfolgen“ angesehen – damit man weiterhin das Erscheinungsbild eines aufgeklärten Juristen auf dem Thron bewahren kann sich nicht mit der Armee streiten muss. Zudem hat man den Fall BUDANOV mit ein paar Gerichtsverhandlungen verdünnt, aber die Hinrichtung von NA – das ist zu viel… Darum hat man den Fall eben ausgebremst. Und wir haben es zugelassen.

Weil auch uns schreckliches zugestoßen ist. Im Jahr 2000 haben wir erst gelernt diese Tendenz (alles muss politisch-zweckmäßig sein) zu sehen, und haben uns darum aufgeregt, weil die politische Zweckmäßigkeit immer öfter die Realität unterdrückt. Heute, kurz vor März 2004, haben wir, die Gesellschaft, uns dermaßen unter dem Einfluss der vierjährigen PUTIN´schen Regierungsperiode verändert, dass wir uns wundern, wenn in der Gesellschaft irgendetwas passiert oder Menschen es schaffen, irgendetwas zu erreichen, das außerhalb der politischen Zweckmäßigkeit liegt.

Anna POLITKOVSKAJA am 05.02.2004 in der Novaja Gaseta

Den Originalartikel finden Sie dort unter РАСПИСКА ЗА УБИЙСТВА

Übersetzung: Andreas ENGELHARDT

Filed under: Mord, Russland

Anna POLITKOVSKAJA 2001: Mord oder Hinrichtung?

Ein Jahr nach der Tragödie in der tschetschenischen Siedlung sind die Ermittlungen zum Stehen gekommen

Die Novye-Aldy-Tragödie stellt für die friedliche Bevölkerung die schrecklichste Seite des zweiten Tschetschenienkrieges dar. Dennoch gibt es weder ein Gerichtsverfahren noch eine Untersuchung. Niemand wird zur Verantwortung gezogen. Dafür tut die Generalstaatsanwaltschaft alles!

Malika LABAZANOVA – eine Bäckerin aus der Siedlung NA am Stadtrand von Grozny. Sie wollte immer nur Bäckerin sein. Obwohl dies bedeutete immer früh aufzustehen, keine Wochenenden oder Feiertage zu haben, fuhr sie jeden Tag in die Bäckerei im Zentrum ihrer geliebten Stadt. Das Backen war ihre einzige Freude. Bis zum Tag des 5. Februar 2000 und dem damit verbundenen Sturm auf Grozny: Malika war zu Hause geblieben. Sie unterbrach das erste Mal ihre Arbeit und wurde so Zeugin des Massakers in NA. Seitdem gibt es für Malika nur noch ein davor und ein danach. Ihr Leben wurde zweigeteilt.

Ab dem 6. Februar musste die Bäckerin Leichen vor hungrigen Hunden und Krähen schützen. Sie bewahrte sie deshalb in ihrem Keller auf. Später, als die Leichen fort waren, putze sie ihre Kacheln im Keller. 100 Opfer hatten die Ausschreitungen gefordert. Der Schrecken war aber noch nicht zu Ende. Die Frage, wer schuld an dem Tod der Angehörigen von Malika war, blieb offen. Deswegen gründeten die Hinterbliebenen von NA im Herbst diesen Jahres das Komitee „Aldy“. Malika ist Leiterin dieses Komitees. Hauptziel von „Aldy“ ist es eine Antwort von der Obrigkeit zu bekommen: Wer ist schuld an dem Tod der Bewohner von NA?

Oktober
Mit dem Anfang der Militäroffensive und dem Beschuss von Grozny, in der Zeit von September bis Oktober, flohen viele NA-Einwohner nach Inguschetien. Einige blieben jedoch und die Familien teilten sich auf. Vor allem der ältere Teil der Bevölkerung blieb. Sie wollten ihre Häuser vor Plünderern schützen. Vor Fremden, aber auch Bekannten.

Anfang Oktober begann der Sturm auf Grozny. Die tschetschenischen Kämpfer befanden sich auf dem „20-ten Grundstück“, ein Gebiet was grade mal 2 Kilometer von NA entfernt war. In der Siedlung selbst waren jedoch keine tschetschenischen Kämpfer. Trotzdem wurde NA, während des ganzen Dezembers und Januars, täglich beschossen und bombardiert.

Die Bewohner der Siedlung versteckten sich in ihren Kellern. Nur selten kamen sie raus. Meist nur dann, wenn sie Wasser brauchten. Trotzdem starben in zwei Monaten 75 Menschen der „Kellerbewohner“. Aber nicht alle starben direkt durch Schüsse. Viele starben an ihren Verletzungen, aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung. Ältere Menschen, weil sie den psychischen Druck nicht aushielten und andere weil sie den Kälte- oder Hungertod erlitten.

Januar
Am 30. Januar begann dann eine Sonderaktion der russischen Truppen. Die so genannte Schamanov´sche Mogelei. Damit wollten sie die tschetschenischen Kämpfer aus Grozny locken. Die Mogelei bestand aus einer Fehlinformation für die Feldkommandeure der tschetschenischen Kämpfer. Es hieß, die föderalen Truppen wären dazu bereit sie friedlich durch das Gebiet ziehen zu lassen. Sie sollten sich ihren geordneten Abzug allerdings erkaufen. Die Tschetschenen bezahlten tatsächlich. Jedoch stießen sie auf dem Weg durch die Stadt auf ein Minenfeld. Die föderale Artillerie und Luftwaffe nutze diese Tatsache gnadenlos aus und fiel über die Siedlungen von Grozny her. Eine der Siedlungen war auch NA.

Februar
3.Februar: Die russischen Truppen besetzen das „20-te Grundstück“. Als diese Nachricht in NA bekannt wird, macht sich eine Delegation von Einwohnern der Stadt auf den Weg dorthin. Sie suchen das Gespräch mit den Kommandeuren des 15-ten Panzergrenadier-Regiments. Unter ihnen befinden sich hauptsächlich alte Menschen und als Zeichen ihrer guten Absichten tragen sie die weiße Fahne. Trotzdem wird auf die Delegation das Feuer eröffnet und einer der NA-Einwohner stirbt sofort. Die Übriggebliebenen schaffen es jedoch die Kommandeure davon zu überzeugen mit dem Feuer auf die Stadt aufzuhören. Am 4.Februar wurde es für kurze Zeit still in NA.
Etwas später begannen die Passkontrollen. Während die Soldaten, die Unterlagen der Bewohner von NA durchblätterten, warnten sie vor der nächsten Bedrohung: „Geht hier weg! Nach uns kommen die Tiere. Sie haben den Befehl zu töten“. Aber die Anwohner schenkten ihnen keinen Glauben. Sie dachten sie wollten sie nur aus ihren Häusern locken, um plündern zu können. Doch dann begann am frühen Morgen des 5. Februars die zweite Säuberung – eine irrationale und blutige Abrechnung. Es traf die, die einfach nur den Weg kreuzten.

Die Säuberung
Aza BISULTANOVA – eine junge Schullehrerin. Was bringt sie jetzt noch den Kindern bei? Und kann sie überhaupt noch irgendjemanden irgendwas beibringen? Es ist schwer zu erklären, aber Aza steht noch immer unter Schock, obwohl seit den Geschehnissen schon zehn Monate vergangen sind.

Aza verlor am 5. Februar ihren Vater – Ahmed Abulhanovich ABULHANOV, 68 Jahre alt. „Wenn sie ihn bloß so erschossen hätten…“ – sagt Aza. Er, Ahmed Abulhanovich – ein angesehener Mann in Novye Aldy – ging an jenem Morgen durch seine vertrauten Straßen und überredete die Menschen aus den Kellern rauszukommen. Er war es, der die Zweifelnden ermahnte/aufforderte: „Wozu sollen wir uns jetzt noch verstecken? Jetzt kann es nur noch besser werden… Wenn wir in den Kellern bleiben, werden die Soldaten denken, dass wir an irgendetwas schuld sind … Aber wir sind doch für nichts schuldig…“

Als ein Soldat den Hof von Ahmed betrat lächelte er den Soldaten an und sagte: „Danke mein Sohn. Wir haben auf euch gewartet und sind froh darüber, dass sich das Warten gelohnt hat“. Jedoch hatte der Soldat anderes im Sinn. „Hol deine Zähne raus, Alter und hol dein Geld, sonst bringe ich dich um!“, sagte er zu Azas Vater. Der alte Mann verstand den Soldaten nicht und lächelte weiter. Streichelte ihm sogar die Schulter.

Malika LABAZANOVA war auch dort und wurde Zeugin der darauf folgenden Abbrechung. Sie nahm ihre Ohrringe und den Ehering ab. Gab alles dem Soldaten. Erklärte ihm, dass ihre Zähne nicht aus Gold seien, sondern nur mit Gold besprüht wurden. Der Rest war billigeres Material. Der Soldat ließ Malika frei. Zuerst musste sie jedoch das Geld ihrer Nachbarn holen. Sie kam mit 300 Rubel zurück und überreichte ihm das Geld. Er lachte: „Das ist doch kein Geld…“.

Ahmed erschossen die Soldaten. Sie machten daraus eine Schießübung, bei der dem alten Mann die obere Schädelhälfte abgeschossen wurde. Danach brachten sie noch drei weitere Menschen um. Eines der Opfer war von der Kindheit an behindert. Er versuchte es den Soldaten zu erklären. Sagte ihnen, dass er die entsprechenden Unterlagen besäße. Trotzdem musste er sterben.
Malika ließen sie aus irgendeinem Grund am Leben. Sie befahlen ihr die Leichen in den Keller zu schaffen und sie tat es. Daraufhin beschlossen die Soldaten, die Kuh und alle Schafe bei lebendigem Leib zu verbrennen. Die Kuh schlossen sie ein. Einer der Soldaten bekam Mitleid und wollte sie freilassen. Sein Vorgesetzter drohte ihm jedoch damit, ihn dann auch umzubringen. Die brennenden Schafe liefen aus dem Stahl, schnappten nach Luft und fielen tot um.

Auch Menschen wurden danach lebendig verbrannt…

Einige wurden dermaßen verunstaltet, dass niemand das Alter der Leichen bestimmen konnte. Unter ihnen Zina ABDULMEZHIDOVA, Husejn ABDULMEZHIDOV, Gula HAJDAEV, Kajpa JUSUPOVA, Elena KUZNEZOVA und Viktor Platonovich TSCHEPTURA.

Hölle
Der Name des Geschehens lautet – die Hölle.
Die, die wie durch ein Wunder überlebten, dachten die Soldaten müssen im Wahn gewesen sein. Verrückt geworden durch die Schlacht oder Drogen. Kein normaler Mensch wäre zu solchen Taten fähig. Doch die nachfolgenden Ereignisse offenbarten ganz andere Motive. „5.Februar“:
Obwohl mehrere Wochen vergingen, begruben die Überlebenden entgegen aller Traditionen die Leichen nicht. Sie warteten auf die Staatsanwaltschaft. Diese sollte alles protokollieren und die erforderlichen Ermittlungen durchführen. Die Beerdigungen mussten dann aber doch stattfinden. Sie konnten nicht noch länger warten, denn niemand kam. Das Warten hatte jedoch kein Ende. Die Angehörigen wollten die Todesbescheinigungen haben. In ihnen wurde festgehalten wie der Verstorbene ums leben kam. (Stich- und Schnittwunden, Schusswunden etc.) Nur wenige erhielten diese. Der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Grozny, der die Bescheinigungen ausgehändigt hatte, wurde kurze Zeit später versetzt. Jene, die eine Bescheinigung erhalten hatten, mussten danach in die Verwaltung des Zavadskoj-Bezirks. Dort wurde ihnen eine neue Todesbescheinigung ausgestellt. In diesen fehlte jedoch die Zeile „Todesursache“.

Ein Jahr Später
Bald wird nach der NA-Hölle – dem Chatyn (ein Weißrussisches Dorf, in dem die SS 1943 ein Massaker veranstaltet hat – siehe wiki), der neuen russischen Zeit – ein Jahr vergangen sein. Ergebnisse der Ermittlungen: Keine.

In den zehn vergangenen Monaten wurden die Zeugen befragt/vernommen. Obwohl viele Mörder ihr Gesicht nicht verdeckt hatten, traut sich keiner der Zeugen ein Phantombild zu erstellen.
Wenn es bloß nur die Phantombilder wären! Die Mehrheit der Opfer besitzen nicht einmal Unterlagen, die den Tod ihrer Angehörigen bescheinigen. Sie haben praktisch nichts, womit sie vor Gericht gehen können und ihren verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gerechtigkeit durchzusetzen.

Es ist offensichtlich, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Aufklärung der Tragödie erfolgreich ausbremst. In offiziellen Briefen wird den Anwohnern von NA mitgeteilt, dass der Fall überprüft wird. Allen anderen wird mitgeteilt, dass die Tschetschenen die Körper der Verstorbenen einfach nicht zur Exhumierung freigeben. Die Ermittlungen könnten deshalb nicht vorankommen. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft lügen schamlos alle an.

Verständlich und logisch ist die Lüge für die Verteidiger der Mörder. Kein Zivilist aus NA ist in der Lage die Aussagen zu überprüfen. Grozny ist fast immer für Besucher gesperrt. Die „Nowaja Gaseta“ hat es allerdings geschafft etwas herauszufinden. Wie sich rausgestellt hat „bitten, flehen, verlangen“ die Bewohner von NA, dass die Exhumierung der Leichnahme durchgeführt wird. Sie wollen, dass die Beweise – die Kugeln – endlich aus den Leichen rausgeholt werden. Mit ihnen könnten die Hinterbliebenen erfahren wer verantwortlich für das Massaker ist. Die Antwort auf diese beharrlichen Forderungen: Es kam doch ein Team von militärischen Gerichtsmedizinern um sich die Unterschriften der Angehörigen zu holen. Jedoch verweigerten diese die Exhumierung.
Dieselbe Generalstaatsanwaltschaft, die bei uns dermaßen schnell arbeitet, wenn es um Oligarchen geht, versucht sich in diesem Fall herauszuwinden. Einige Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, die aus irgendwelchen Gründen, zu verschiedenen Zeiten, an den Ermittlungen im Fall der NA-Tragödie beteiligt waren, haben, unter der Garantie der ewigen Anonymität, einem „Gespräch“ zugesagt. Sie taten so als ob die Rede von einem Nuklear-Staatsgeheimnis wäre. Ihrer Information zufolge, wird von ganz oben Druck ausgeübt.

Dabei gab es einen Befehl, den Fall unter der verschlüsselten Bezeichnung „5. Februar“ auszubremsen. PUTIN wollte sich zu dieser Zeit unter keinen Umständen mit den Militär-Chefs des Landes streiten.

Sollte der Fall des NA-Albtraums aufgelöst werden – also bis zur Vorlage der Anklage – würden weitere ähnliche Fälle folgen. Dessen ist man sich sicher in der Generalstaatsanwaltschaft. Aber auch die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft haben Angst: sie werden angeblich von den Offizieren, die für das Massaker in NA verantwortlich sind, bedroht.

Ob das wirklich so ist wird sich erst mit der Zeit herausstellen. Zweifellos ist daran aber nur schwer zu glauben. Solange müssen wir uns aber eines eingestehen: das Land züchtet/zieht auf, hegt, pflegt und beschützt unter anderem auch die Kriegsverbrecher von NA. Sie werden wohlmöglich sogar zu Ordenträgern oder zu Major-Oberst-Generälen.

Erst vor kurzem, am 23. November, beerdigte man den alten Hassan MUSAEV. Am 5. Februar wurden vier seiner Familienangehörigen vor seinen Augen erschossen. Auch ihn hatte man schon auf den Boden geworfen und eine Gewährmündung in sein Ohr gesteckt. Aber dann sagte man ihm: „Bleib am Leben. Um daran zu leiden, dass wir dich nicht erschossen haben…“

Der alte Hassan hat tatsächlich sehr gelitten und verstarb an seinem dritten Herzinfarkt.
Wurde etwa davon, jemanden in Russland, wirklich leichter auf der Seele?

Anna POLITKOVSKAJA in der Novaja Gaseta am 22.01.2001

Den Originalartikel finden Sie dort unter УБИЙСТВО ИЛИ КАЗНь?

Übersetzung: Andreas ENGELHARDT

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Anna POLITKOVSKAJA 2000: Die Obrigkeit ist so zynisch wie ein Tyrann

Sieben Opfer des Militärterrors wurden um die Todesbescheinigungen ihrer Angehörigen beraubt

Die Obrigkeit überschwemmt das Land mit ihrem kalten und bis zur Abscheu berechnenden Zynismus. All das, was, um die so genannte Novye-Aldy-Tragödie passiert, ist eine der schrecklichsten Seiten des zweiten Tschetschenienkrieges – hier der Beweis:

Wir erinnern: Am 5. Februar 2000 war der Tag der „Befreiung“ von Soldaten in der Siedlung Novye Aldy im Industriebezirk von Grozny. Am Morgen fing dort eine „Passkontrolle“ an, durch Kräfte des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums. Es war der Anfang eines Massakers an der Zivilbevölkerung („Novaja Gaseta“ hat darüber bereits in der Ausgabe Nr. 12 berichtet). Das Ergebnis: in der Siedlung wurden fast hundert Menschen auf brutalste Art und Weise zu Tode gequält. Einige von ihnen sind bis heute nicht identifiziert. Grund dafür sind die ihnen zugeführten Verletzungen.
Wie hat die Obrigkeit darauf reagiert? Extrem träge!

Sie wollten natürlich das alle Schweigen. Die Informationen erreichten jedoch die Presse und so wurde dann doch ein Strafverfahren eingeleitet. Erstmal passierte aber nichts. Erst einige Zeit später wurde das Verfahren wieder aufgenommen. Unser Korrespondent, der über das Massaker berichtet hatte, wurde erst im Juli (!) zur Vernehmung der Geschehnisse eingeladen. Der Untersuchungsbeamte war jedoch in völliger Unkenntnis über die zu untersuchende Frage. Es war nur eine reine Formalität unseren Korrespondenten vorzuladen. Niemand wollte klare Antworten auf die Fragen: wer und wie viele?

Der Hohn erreichte seinen Höhepunkt, als den Hinterbliebenen der Opfer von NA, die Sterbeurkunden verweigert wurden. Sie taten so, als hätten diese Menschen – die brutal zu Tode gequälten, die lebendig Verbrannten, die mit abgeschnittenen Köpfen und Ohren – nie existiert. Die Empörung der Bevölkerung war groß. Der Ermittlungsbeamte der Nordkaukasischen Generalstaatsanwaltschaft T. MURDALOV wollte die Situation mildern, indem er einigen besonders wichtigen Fällen Zertifikate mit folgendem Inhalt erstellte:

„Am 5. Februar 2000 wurde in der ersten Tageshälfte, in der Siedlung Novye Aldy des Industrie-Bezirks der Stadt Grozny, Tschetschenische Republik, durch Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation, während der Passkontrolle-Maßnahmen, ein Massenmord an der friedlichen Bevölkerung der oben genannten Siedlung begangen, dabei wurde … (dann folgte der Name des verstorbenen) ermordet. In Zusammenhang mit diesen Fakten ermittelt die Hauptverwaltung der Generalstaatsanwaltschaft am Nordkaukasus.“

Der Ermittlungsbeamte MURDALOV hatte es geschafft 33 solcher Zertifikate auszustellen und dementsprechend die Erinnerung an die 33 Opfer wieder herzustellen. Das 34-te Dokument kam jedoch nicht mehr ans Tageslicht. Der Ermittlungsbeamte wurde von seinem Posten entlassen und degradiert. Er wurde sogar aus Grozny ausgewiesen. Damit blieb ihm die Möglichkeit verwährt sich mit den Angehörigen vor Ort, in seinem Büro, zu treffen. Aber nicht nur der Ermittler wurde fortgeschafft, auch der Fall selbst. Sie übergaben ihn dem Ermittlungsbeamten N. HAZIKOV in Essentuki. Dieser Ort ist von NA genauso weit entfernt wie Moskau.

Gehen die Angehörigen, der Opfer von NA, jetzt in die Staatsanwaltschaft von Grozny, sagt man ihnen: „Fahren Sie nach Essentuki. Klären Sie alles dort!“ Das ist in etwas so, als würde man einem armen Moskauer sagen: „Fahr nach Argentinien!“ Denn er Abstand von NA bis Essentuki ist wesentlich größer als von Essentuki bis NA.

„Wenn HAZIKOV wenigstens eine Dienstreise nach Grozny machen könnte (was er nicht macht). Wir sind dagegen nicht im Stande einfach so nach Essentuki zu fahren“ – sagt Tabarik ARSAMURZAEVA. „Man lässt uns nicht weiter als bis zu dem letzten tschetschenischen Kontrollposten. Außerdem haben wir kein Geld für den Zug. Wir denken, dass sie es extra gemacht haben, um unsere Tragödie zu beerdigen.“

Wir stehen am Eingang der Staatsanwaltschaft in Grozny. Aufgrund der Schreie versammelter Novoaldyner, kommt endlich der Assistent des Staatsanwaltes, Aleksander LEBEDEV, raus und verweigert den Familienangehörigen der Verstorbenen jegliche Hilfe. Die Angehörigen bitten darum mit dem Ermittlungsbeamten HAZIKOV per Telefon verbunden zu werden. Sie flehen um eine erneute Aufnahme von Zeugenaussagen, die Exhumierungen der Leichnahme und darum das Problem mit den Todesbescheinigungen zu lösen.

„Unsere Kinder werden nicht als Waisen anerkannt. Verstehen Sie uns“ – sagt Malika LABAZANOVA. „Wir können nicht beweisen, dass diese Manschen, unsere Schwestern, Brüder und Männer waren. Das sie überhaupt gelebt haben …“. LEBEDEV bleibt jedoch unnachgiebig.
Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, die verlangt haben anonym zu bleiben, erklärten später, dass es einen Befehl aus Moskau gab indem es hieß die Untersuchung der NA-Tragödie auszubremsen. Jegliche Ausstellung von Unterlagen, die das Massaker untermauern konnten, war untersagt worden. Keiner der Angehörigen sollte die Möglichkeit haben sich an eine internationale Organisation zu wenden um dort zu beweisen, dass am 5. Februar 2000 der Massenmord tatsächlich stattgefunden hat.

Die Armee stellt die Arme der Obrigkeit dar. Eine Obrigkeit geprägt durch staatlichen Zynismus, in einer Epoche der schnellen Entfaltung. Daher wird alles was sie macht, von den Menschen als Materialisierung ihrer Gedanken verstanden. Auch von den Menschen, die sie selbst geschaffen hat.

Anna POLITKOWSKAJA in der Novaja Gaseta am 11.09.2000

Den Originalartikel finden Sie dort unter ВЛАСТЬ ЦИНИЧНА, КАК НАСИЛЬНИК

Übersetzung: Andreas ENGELHARDT

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