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Blog: Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen

Journalisten, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Tschetschenien ermordet wurden:

Diese Aufstellung basiert auf einer Dokumentation von Oleg PANFILOV, Initiator des „Center of Journalism in Extreme Situations (CJES) in Moskau: www.cjes.ru/index-e.php. Die Dokumentation ist direkt erreichbar (in russischer Sprache) unter www.memorium.cjes.ru

1. Tschetschenienkrieg (1994-1996)

GUZUEV, Hussejn
gestorben am 26.11.1994
Rundfunk Staatskomitee der Tschetschenischen Republik, Vorsitzender

Getötet bei einem Feuergefecht während des Sturmangriffs auf Groznyj durch russische Truppen.

TSCHARIGOV, Gelani
gestorben am 14.12.1994
Fernsehen der Tshetschenischen Republik, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann

Gestorben an Schwerverletzungen bei einem Luftangriff der russischen Luftarmee.

ELBAUM, Cynthia
Gestorben am 22.12.1994
Zeitschrift Time, USA, freie Journalistin

Ums Leben gekommen während der Luftbombardierung von Groznyj durch russische Truppen

AKHMADOV, Bilal
1972 – 31.12.1994
Fernsehen der Tschetschenischen Republik, Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Ermordet in der Nähe vom Eisenbahn-Bahnhof Groznyjs.

ZHITARENKO, Vladimir
15.06.1942- 01.01.1995
Zeitung Krasnaja Zvezda (Rotes Stern), Moskau, Russland, Korrespondent

Ermordet in der Nähe von Groznyj. Es bestehen 3 Versionen des Mords. Die offizielle Version: Tod als Folge eines Beschusses mit Granatwerfern durch russische Landungstruppen. Eine zweite Version stammt vom Innenministerium der Russischen Föderation und besagt, dass ZHITARENKO von einem tschetschenischen Scharfschützen in den Kopf erschossen wurde. Die Version des Journalisten Oleg BLOZKIJ lautet, dass ZHITARENKO von russischen Wachsoldaten erschossen wurde, nachdem er keine zutreffende ‚Parole’ nennen konnte

NURIEV, Sultan
gestorben am 07.01.1995
Freier Journalist

Keine weiteren Angaben vorhanden

PIEST, Jochen
gestorben am 10.01.1995
Stern, Deutschland, Korrespondent

Jochen PIEST erlitt am 10. Januar 1995 an der Bahnstation Tscherwijlonnajn, 25 Kilometer von Grosny entfernt, drei tödliche Schussverletzungen. Ein tschetschenischer Partisan hatte den 30-jährigen Moskauer Stern-Korrespondenten von einer Lokomotive aus unter Feuer genommen. Der Reporter war auf dem Weg in den Kaukasus, um über den tschetschenischen Widerstand zu berichten

JANUS, Valentin Alexandrovich
26.09.1940-14.01.1995
GTRK Pskov – staatlicher Fernsehsender, Pskov, Russland, Kameramann

Es existieren zwei Versionen über den Tod. Nach mehreren Angaben war er zum fraglichen Zeitpunkt am Ort der Stationierung russischen Landungstruppen aus Pskov und wurde dabei erschossen. Nach einer anderen Version wurde JANUS beim Drehen in einem russischen Panzer getötet. Dabei entstand die letzte Videoaufnahme von ihm beim Sturm der russischen Landungstruppen auf die tschetschenische Präsidentenresidenz in Groznyj

SCHABALIN, Maxim
vermisst seit dem 27.02.1995
Nevskoe Vremja, St. Petersburg, Russland, Korrespondent

Zuletzt gesehen – zusammen mit seinem Kollegen Felix TITOV – in Nazran/Tschetschenien am 27. Februar 1995. Am 4. März sollte der Korrespondent wieder am Arbeitsplatz seiner Zeitung in St. Peterburg erscheinen. Beide hatten zusammen auch aus dem Kosovo und Nagornyi Karabach berichtet

TITOV, Felix
vermisst seit dem 27.02.1995
Nevskoe Vremja, St. Peterburg, Russland, Bildkorrespondent

Zuletzt gesehen in Nazran/Tschetschenien, zusamen mit seinem Kollegen Maxim SCHABALIN, am 27. Februar 1995. Am 4. März sollten die beiden Korrespondenten eigentlich wieder in der Zeitungsredaktion in St. Peterburg auftauchen. Beide hatten u.a. auch aus dem Kosovo und Nagornyi Karabach berichtet

Die St.Petersburger Zeitung Nevskoye Vremja, für die Maxim SCHABALIN und Felix TITOV gearbeitet haben, 2004 den Gerd-Bucerius-Förderpreis „Junge Presse Osteuropa“ zugesprochen bekommen.

ZEBIEV, Ruslan Ahmedovich
1972-31.03.1995
Fernsehsender Presidentskij Kanal (Präsidentenkanal), Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Die Leiche wurde in einer Grube in der Nähe seines eigenen Hauses gefunden. Außer seiner Tätigkeit beim Presse-Dienst des tschetschenischen Präsidenten Dschohar DUDAEV, war er auch beim Radiosender Vostok (Osten) tätig.

SULEJMANOVA, Alkan
Gestorben am 06.05.1995
Zeitung Ichkeria, Groznyj, Tschetschenien, Korrespondentin

Umgekommen während der Bombardierung der Objekte (???was waren das für Objekte???) von tschetschenischen Kämpfern in den Umgebungen der Siedlung Schatoj (50 km südlich von Groznyj)

KERIMOV, Farhad Asker ogly
Nachrichtenagentur AP (USA), Kameramann des Teledienstes
11.12.1948-22.05.1995

Erschossen im Wald in der Nähe der Siedlungen Sajasan und Schuani, 44 km südlich von Groznyj. Die Leiche wurde von seinem Bruder nach einigen Tagen identifiziert. Nach Angaben der Zeitschrift Soldat Udachi, wurde Kerimov aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit den russischen Sicherheitsdiensten von tschetschenischen Kämpfern erschossen

ALJAKINA, Natalja
erschossen am 17.06.1995 http://www.aktuell.ru – Deutsch-russische Nachrichtenagentur, Deutschland, Korrespondentin, u.a. auch für Focus

Natalia und ihr deutscher Ehemann, der Journalist Gisbert MROZEK sowie der Fotokorrespondent Oleg NIKISCHIN waren an diesem Tag auf dem Weg nach Budjonovsk – sie wollten über die Geiselnahme tschetschenischer Rebellen in einem Krankenhaus berichten. An der Stadtgrenze wurde ihr Wagen für eine übliche Kontrolle der Papiere durch russische Soldaten des Innenministeriums angehalten, dann durchgewunken. Wenige Meter danach wurden sie von hinten durch ein Bordmaschinengewehr eines Panzers von der Kontrollstation aus beschossen – angeblich aus Versehen hätten sich zwei Schüsse gelöst, so die Version später vor einem Militärgericht. Gisbert MROZEK, der unversehrt blieb, zieht aus den widersprüchlichen Zeugenaussagen und dem offenkundigen Desinteresse des Militärstaatsanwalts den Schluss, dass absichtlich geschossen wurde, nicht um die drei Journalisten zu töten, aber einzuschüchtern.

IVANOV, Sergej
Vermisst seit dem 21.06.1995
Freier Fotojournalist, St. Peterburg, u.a. für die Zeitung Nevskoe Vremja

hatte an einer der Such-Expeditionen in Tschetscheniten nach zwei vermissten Korrespondenten (SCHABALIN und TITOV) der Zeitung Nevskoe Vremja teilgenommen. Um mehr herausfinden zu können, begab sich der Journalist selbstständig zu den südlichen Gebirgsgebieten Tschetscheniens. Am 21. Juni 1995 erhielt Georgij SCHABALIN, Vater von Maxim SCHABALIN, der ebenfalls zwecks Aufspüren seines Sohnes nach Tschetschenien gekommen war, eine Nachricht, dass IVANOV in 2-3 Tagen nach Atschhoj-Martan zurückkehren würde. Es war die letzte Nachricht über Sergej IVANOV. Bis heute weiß man nichts mehr über den Verbleib aller drei Medienleute

KAGIROV, Schamhan Abdurahmanovich
Gestorben am 12.12.1995
Rossijskaja Gazeta, Moskau, Russland, Korrespondent

KAGIROV und drei Miliz-Beamte waren auf dem Weg zu einem der Wahlbezirke (20 km von Groznyj), als der Wagen vermutlich von tschetschenischen Kämpfern beschossen wurde

IVLIEV, Alexej
MOLCHANOV, Evgenij
PLATONOV, Stanislav
ZALOEV, Batyr

Alle umgekommen am 24.12.1995
Fernsehsender NTV, Moskau, Russland

12 km hinter Groznyj kamen der Korrespondent Alexej IVLIEV, sein Kameramann Evgenij MOLCHANOV, der Tonmann Stanislav PLATONOV sowie ihr Fahrer Batyr ZALOEV bei einem Autounfall ums Leben. Sie waren auf dem Weg nach nach Nazran, um die aufgenommenen Materialien mit Hilfe einer dort vorhandenen Relaisverbindung nach Moskau zu kabeln

PIMENOV, Viktor
gestorben am 11.03.1996
Fernsehsender Vainah, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann

Vermutlich Opfer von tschetschenischen Scharfschützen geworden

TSCHAJKOVA, Nadezhda
1963-30.03.1996
Obschaja Gazeta (Allgemeine Zeitung), Moskau, Russland, Korrespondentin

Nach der gerichtlichen medizinischen Expertise wurde TSCHAJKOVA mit einer „Makarow“ erschossen. Zuvor war sie schwer geschlagen worden und anschließend mit verbundenen Augen von hinten in den Kopf erschossen. Es wird vermutet, dass die Leiche erst nach der Tat an der Siedlung Gechi abgelegt wurde

JAGODIN, Anatolij Benediktovitsch
gestorben am 18.04.1996
Zeitschrift Na boevom postu, Zeitschrift des russischen Innenministeriums in Moskau, militärischer Status: Hauptleutnant, von Beruf Korrespondent

Vor dem Kosakendorf Assinovskaja gerieten die Panzer der Sofrinskaja Brigade der tschetschenischen Innentruppen (Miliz), wo sich auch Anatolij JAGODIN befand, an das Versteck (Hinterhalt) von tschetschenischen Separatisten. Die Aufgabe des Korrespondenten hätte in der Beschreibung der Rückkehr der russischen Armee bestanden

EFIMOVA, Nina
gestorben am 08.05.1996
Zeitung Vozrozhdenie (Wiedergeburt), Groznyj, Tschentschenien, Korrespondentin

Die Leiche der Korrespondentin wurde vor dem Gebäude des Öl-Technikums in Lenin Rajon (Bezirk) in Groznyj gefunden. Die Nachrichtenagentur ITAR-TASS und RIA-Novosti berichteten, die Journalistin und ihre Mutter seien in der Nacht vom 7. Mai entführt und mit dem Kopfschuss getötet worden. Als Hintergrund könnten letzte Publikationen der Journalistin über Kriminalität gewesen sein

HADZHIEV, Ramzan
14.11.1955-11.08.1996
ORT, Moskau, Russland, Korrespondent

Am 11. August erlitt der Korrespondent 2 tödliche Schussverletzungen am Block-Wachposten in der Nähe von Groznyj aus dem Maschinengewehr eines Panzers von Soldaten der russischen Föderaltruppen

GOGUN, Ivan
Gestorben am 20.08.1996
Zeitung Groznenskij Rabochij (Groznyjer Arbeiter), Groznyj, Korrespondent

Schwer verletzt in Groznyj, danach im Krankenhaus von Vladikavkaz zugestellt gestorben

2. Tschetschenienkrieg (1999-2001)

EPENDIEV, Supjan
gestorben am 29.10.1999
Zeitung Groznenskij Rabochij (Groznyjer Arbeiter), Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Der Korrespondent wurde im Rahmen von Kampfhandlungen in Groznyj schwer verletzt und starb nach zwei Tagen

GIGAEV, Schamil
Gestorben am 29.10.1999
Fernsehen Nohtscho, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann
Umgekommen während der Luftbombardierung durch die russische Armee, die tschetschenische Flüchtlinge auf dem Weg von Groznyj nach Nazran beschossen hatte

MEZHIDOV, Ramzan Hasanovich
gestorben am 29.10.1999
Fernsehsender TV Zentr, Moskau, Russland, Korrespondent

Stark verletzt während der Bombardierung einer Autokolonne, in der er saß, auf dem Wege nach Nazran durch die russische Luftarmee. Wegen des hohen Blutverlusts im Krankenhaus von Nazran verstorben

LOSKUTOV, Alexander Grigorjevich
6.09.1955- 17.12.1999
Zeitschrift Morskoj Sbornik Moskau, Russland, Korrepondent

Gestorben an schweren Verletzungen im Kopfbereich beim Zusammenstoß seines Autos mit einem Panzer

ARZHIEVA, Luiza
1974 – 22.03.2000
Zeitung Istina mira (Weltwahrheit), Moskau, Russland, Korrespondentin

Die Einzelheiten des Todes sind bis heute unbekannt. In der Sterbeurkunde, ausgestellt am 22.06.2000, wurden als Grund für den Tod „mehrere Splitterverletzungen im Brust- und Kopfbereich“ genannt

EFREMOV, Alexander
gestorben am 12.05.2000
Zeitung Nasche Vremja (Unsere Zeit), Tjumen, Bildkorrespondent

Der Wagen, im dem sich der Korrespondent zusammen mit zwei offiziellen Miliz-Offizieren befand, fuhr in Richtung Groznyj und wurde in der Nähe der Siedlung Kirov von tschetschenischen Kämpfern zur Explosion gebracht

TEPSURKAEV, Adam
Gestorben am 23.11.2000
Reuters Nachrichtenagentur, Kameramann

Erschossen in der Siedlung Ermolovka (süd-westlich von Groznyj) von unbekannten Tätern, die Tschetschenisch sprachen

POPKOV, Viktor
Gestorben am 02.06.2001
Novaja Gazeta, Moskau, Russland, Freier Journalist

Am 18. April 2001 wurde der Wagen von Viktor POPKOV in der Nähe der Siedlung Alhan-Kala von zwei unbekannten Tätern beschossen. Der Journalist erlitt mehrere schwere Verletzungen, zwei davon im Kopf. Er erlag diesen Verletzungen einige Wochen später im Krankenhaus von Krasnogorsk

BARANJUK, Juri Danilovich
Gestorben am 27.01.2002
Komsomolskaja Pravda (Komsomolwahrheit), Moskau, Russland, Korrespondent

Der Hubschrauber MI-8 mit dem Korrespondenten sowie 13 weiteren Personen an Bord explodierte aus unbekannten Gründen im Schelkovskij Kreis

SUHOMLIN, Vladimir Vladimirovich
1979-08.01.2003
Moskau, Russland, freier Internet-Journalist, Gründer der unabhängigen Websites http://www.chechnya.ru und http://www.serbia.ru

Die Leiche des Journalisten wurde am Stadtrand von Moskau gefunden. Vladimir wurde am 4. Januar von vorm Kinotheater in Leninskij Prospekt entführt. Die Täter hatten ihn mit Baseballschlägern zu Tode geschlagen. Später wurden Verdächtige festgenommen, die nach ihren Angaben für den Mord am Journalisten 1.200 US Dollar von ihrem Auftraggeber bekamen. Diese wurden bisher nicht ermittelt

HASANOV, Adlan
1970-09.05.2004
Reuters Nachrichtenagentur, Korrespondent

Kam während eines Terroraktes im Stadion „Dynamo“ in Groznyj um. Anlässlich des „Tages des Sieges“ befand sich der Journalist unter den Gästen des amtierenden Präsidenten Akhmad KADYROV: es gab ein Konzert. Dabei explodierte eine Bombe, deren Zündvorrichtung sich auf der zentralen Tribüne des Stadions befand. KADYROV und der Kommandant der Sondertruppen Valeri BARANOV sowie der Korrespondent starben. Insgesamt kamen dabei mehr als 14 Personen ums Leben, 63 Personen wurden schwer verletzt. Heute agiert KADYROV’s Sohn Ramsan KADYROV als Präsident – nicht gewählt, sondern eingesetzt von Wldamir PUTIN

POLITKOVSKAJA, Anna Stepanovna
30.08.1958-07.10.2006
Novaja Gazeta, Moskau, Russland, Korrespondentin

Erschossen an PUTIN’s Geburtstag am 7. Oktober 2006 im Hausaufzug ihrer Wohnung in Moskau. Siehe dazu Anna POLITKOVSKAJA

Redaktion DokZentrum

Dossier TSCHETSCHENIEN

Filed under: investigativer Journalismus, Journalismus, Krieg, Mord, Russland, Tschetschenien

Tschetschenien – eine lange Chronologie

von Sebastian Metcalfe und Henriette Schrader

Einleitung

In dem seit über 400 Jahren herrschenden Konflikt zwischen Tschetschenen auf der einen und Russen auf der anderen Seite geht es in erster Linie um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region im Nordkaukasus. Neben diesem Aspekt spielt auch die Religion eine nicht unbedeutende Rolle, da die Mehrheit der Tschetschenen dem Islam angehört. Russland misst Tschetschenien aufgrund seiner geopolitischen Lage seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Heute empfinden beide Völker angesichts der vielen Opfer, die in den Tschetschenienkriegen bereits ums Leben gekommen sind, vor allem Rachegefühle

16. – 18. Jahrhundert

An den zwei Flüssen Terek und Kuban, die zwischen dem russischen Tiefland und dem Nordkaukasus entlang fließen, gründen sich im 16. Jahrhundert die ersten russischen Kosakengemeinden. Es entstehen militärische Stützpunkte und Festungen. Bei ihren Versuchen bis an die warmen Meere auch weiter südlich vorzudringen, stoßen die Russen auf unerwartet heftigen Widerstand seitens des tschetschenischen Volkes, der sich mit der Ausbreitung des sunnitischen Islam in Tschetschenien im 17. und 18. Jahrhundert weiter verstärkt.
Die Russen geben ihre Kolonialisierungsbestrebungen nicht auf und befürchten vor allem, dass sie durch eine Vereinigung Dagestans mit Tschetschenien ihren geostrategisch bedeutenden Zugang zum Kaspischen Meer verlieren würden. Dagestan ist die Verbindung Russlands zum Kaspischen Meer. Die dagestanische Hauptstadt Machachkala ist der einzige russische Allwetterhafen am Kaspischen Meer.

19. Jahrhundert

Die Kaukasuskriege erreichen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt unter dem tschetschenischen Führer Imam SCHAMIL, bis dieser 1859 kapituliert und es 1864 zum „Jahr der Unterwerfung“ der gesamten Region unter die zaristische Oberherrschaft kommt. Daraufhin emigriert ein Fünftel der tschetschenischen Bevölkerung in die Türkei und in andere Länder des Vorderen Orients.

20. Jahrhundert: 1917

Nach der Oktoberrevolution am 7. November in Russland und den folgenden nationalen Bestrebungen der Regionen im Nordkaukasus droht das Russische Reich unaufhaltsam zu zerbrechen.

1918 – 1922

Im Kaukasus kommt es 1918/19 zu kurzlebigen autonomen Staatsbildungen wie dem „Imamat der Bergvölker“, der „Nordkaukasischen Föderativen Republik“ im Westen und dem „Nordkaukasischen Emirat“ im Osten. Diese Staatsbildungen werden 1920 von Russland unter dem Namen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ (die die heutigen Republiken Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien umfasst) zusammengefasst – und der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) einverleibt. Dagestan erhält einen eigenen Republikstatus. Das Leitwort der sowjetischen Nationalitätenpolitik lautet „korenisazija“ (Einwurzelung). Repräsentanten sollen aus den Völkern stammen, russische Personen, die ein Amt wahrnehmen, müssen die regionalen Sprachen lernen und sich mit dem örtlichen Gewohnheitsrecht vertraut machen. Aus der neuen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ werden in den folgenden Jahren einzelne autonome Gebiete und Republiken im Bestand der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) ausgegliedert. In diesem Zuge entsteht 1922 auch ein autonomes tschetschenisches Gebiet.

1927 – 1933

1927 schwingt sich STALIN zum Diktator der Sowjetunion auf und vollzieht im Jahre 1928 eine Kollektivierung der nordkaukasischen Landwirtschaft. Dies geschieht z. B. durch Zwangsumsiedlungen von Gebirgs- in Talregionen. Außerdem werden immer wenigstens zwei Völker in eine Verwaltungseinheit zusammengefasst.
Auf die Serie von tschetschenischen Aufständen gegen die Zwangsumsiedlungen reagiert die sowjetische Seite mit einer „allgemeinen Operation zur Ausmerzung antisowjetischer Elemente“ im Nordkaukasus. Ganze Regionen kämpfen mittlerweile gegen die rote Armee.

1934 – 1936

Vereinigung des Tschetschenischen und des Inguschischen Autonomen Gebiets, das 1936 umbenannt wird in die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ der Tschetschenen und Inguschen, als Teilrepublik der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) innerhalb der Sowjetunion mit eigensprachiger Verwaltung, Schule und Presse.

Seit 1937

STALIN gelingt es, mit seinem „Generalschlag gegen antisowjetische Elemente“ die Solidarität der Clan- und Stammesgemeinschaften zu brechen: durch Aufspaltung einzelner Gebiete sowie Durchmischung einzelner Volksgruppen. Der bewaffnete Widerstand nimmt daraufhin zu und entwickelt sich zu einer regelrechten Guerillabewegung.

Februar 1944

Die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ wird aufgelöst und STALIN lässt das tschetschenische Volk wegen einer angeblichen heimlichen Zusammenarbeit mit HITLER-Deutschland (die deutschen Truppen hatten den Kaukasus wegen seiner Erdölvorkommen besetzt) nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Bei dieser Gewaltaktion sterben etwa ein Drittel der Deportierten. Heute ist der 23. Februar Volkstrauertag in Tschetschenien.

1953

Nach STALINs Tod am 5. März kehren viele Deportierte illegal zurück in ihre Heimat und demonstrieren damit ihren ausgeprägten Widerstandswillen bzw. ihre Identität mit Tschetschenien.

1956 – 1959

Am 24. November 1956 beschließt das sowjetische Zentralkomitee (ZK) in Moskau unter dem neuen Ersten Sekretär Nikita CHRUSCHTSCHOV die offizielle Wiederherstellung der nationalen Territorien im Kaukasus. Die Rehabilitation des tschetschenischen Volkes wird im Januar 1957 ausgeführt und die Tschetscheno-Inguschische „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ – um diverse Gebiete minimiert – wird wieder hergestellt. Bei der Volkszählung 1959 stellt sich heraus, dass die Bewohnerschaft um über 20 Prozent abgenommen hat.

März 1985

Michail GORBATSCHOV wird neuer Generalsekretär des ZK der KPdSU.

April 1985

Boris JELZIN wird von Präsident Michail GORBATSCHOW vorgeschlagen als Chef der in der Sowjetunion herrschenden kommunistischen Partei (KPdSU) in Moskau.

März 1987

Der Europarat verabschiedet das „Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung“, welches 1989 in Kraft tritt und unter anderem auch von Russland ratifiziert wird.

27. November 1990

Nach dem Zusammenbruch und politischen Zerfall der Sowjetunion bzw. der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), der nicht zuletzt durch Michail GORBATSCHOWs Glasnost-Politik zustande kam, erklären die Tschetschenen ihren verfassungsrechtlichen Austritt aus der UdSSR durch die Deklaration über die staatliche Souveränität der „Tschetscheno- Inguschischen Republik“. MEHR

Dossier TSCHETSCHENIEN

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Anna POLITKOVSKAJA

Eine couragierte Journalistin

von Marc Alexander Holtz & Tim Kinkel

Anna MASEPA wird am 30.08.1958 in New York geboren. Ihre Eltern sind ukrainische Diplomaten im Dienst der UdSSR bei den Vereinten Nationen. 48 Jahre später wird sie in Moskau durch fünf Schüsse einer Makarov-Pistole ermordet.

Die auf amerikanischem Boden geborene Anna verschlägt es nach Russland. Als 20jährige heiratet sie Alexander POLIT- KOVSKIJ, den sie kurz vor ihrem Studium der Journalistik an der Lomonossov-Universität in Moskau auf einer Party kennen lernt. Er ist 25. Sie bekommen zwei Kinder. Alexander arbeitet an seiner journalistischen Karriere, Anna übernimmt die Rolle der Hausfrau. Schnell ist sie unausgefüllt, wird eifersüchtig auf seine Arbeit. Sie will auch arbeiten, schreiben. Schreiben, worüber sie denkt. Keine Kompromisse. Nicht für Geld. Nicht für irgendwessens Interessen. 1980 schließt sie ihr Studium ab.

Zunächst arbeitet Anna für diverse russische Zeitungen und Zeitschriften wie z. B. dem Lufttransport oder der Iswestija. Ihr Eintritt in das Leben einer professionellen Journalistin gestaltet sich jedoch schwer. Die Arbeit wird ihren Ansprüchen nicht gerecht, ihre Aufgaben sind substanzlos. Bei der Iswestija verantwortet sie den Briefverkehr.

Ihre Ehe ist ein ewiges Auf und Ab. Alexander und Anna leben in bescheidenen Verhältnissen. Mit Pfandflaschen helfen sie sich die Zeit bis zur nächsten Vorschusszahlung zu überbrücken. Für Kultur reicht das Geld nicht aus, aber Verzicht üben die beiden keinen: Das Theater gegenüber der gemeinsamen Wohnung besucht das Paar regelmäßig. „Wir gingen nach dem ersten Akt, als wir ohne Mantel über die Straße gelaufen kamen, ins Theater hinein, als kämen wir vom Rauchen wieder. Dadurch kannten wir das gesamte Repertoire der Stücke, jeweils ab dem zweiten oder dritten Akt“ (Alexander POLITKOVSKIJ).

1994 dann Annas Wechsel zur Wochenzeitung Obschtschaja Gazeta. Damals eines der Vorzeigeblätter demokratischer Berichterstattung Russlands. Sie wird Kommentatorin, stellvertretende Chefredakteurin und besetzt die leitende Position der Abteilung „Außerordentliche Vorfälle“. Annas Vorliebe für Investigation und Reportage führt sie weiter zur oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta. Sie recherchiert und berichtet über Themen, vor denen die Mehrzahl der Journalisten in Russland bis heute zurückschreckt. Fokus ihrer Berichterstattung sind Korruption, menschenunwürdige Politik, Gewaltherrschaft sowie Unterdrückung der Meinungsfreiheit. 1999 erhält sie von ihrem Chefredakteur Dmitri MURATOV das Angebot, den Job als Sonderkorrespondentin im zweiten Tschetschenienkrieg zu übernehmen. Sie nimmt an.

Anna POLITKOVSKAJAS besonderes Interesse gilt den militärischen Interventionen gegen die Zivilbevölkerung. Ihre Artikel und Reportagen stehen im Widerspruch zur Darstellung des Kremls, der den Krieg im Nord-Kaukasus offiziell bereits als beendet erklärt hat. Sie schreibt über Verbrechen der russischen Armee und der mit ihnen verbündeten paramilitärischen tschetschenischen Gruppen als auch über brutale Übergriffe tschetschenischer Rebellen auf russische Soldaten. Vor allem verweist sie auf die Willkür und den Sadismus innerhalb des Krieges, um auf die humanitäre Katastrophe im Krisengebiet aufmerksam zu machen.

„Ein Krieg lässt sich sehr leicht beginnen, unvergleichlich schwerer ist es, danach all der Ungeheuer Herr zu werden, die er hervorgebracht hat“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA bezieht ihre Kenntnisse stets aus erster Hand. Sie knüpft Kontakte zu tschetschenischen Untergrundkämpfern, Zivilisten, Flüchtlingen sowie zu russischen Soldaten. Folter, Mord, Vergewaltigung, Korruption, Diebstahl, Erpressung und Menschenhandel scheinen für alle Beteiligten in Tschetschenien zum grausamen Alltag in Tschetschenien zu gehören. Auf über 50 Reisen durch die Region spricht sie mit Opfern über ihre Schicksale, erforscht sie die Hintergründe von Entführungen und den so genannten „Säuberungsaktionen“, sieht sie verstümmelte Leichen – auch verstümmelte Lebende – und bringt diese Erfahrungen wieder mit nach Moskau, um sie über die Novaja Gazeta der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dabei belässt sie es nicht nur bei der Berichterstattung, sondern setzt sich darüber hinaus auch aktiv in Gerichtsverfahren für die Familien sowohl der tschetschenischen Zivilbevölkerung wie auch der ermordeter russischer Soldaten ein.

Alexander POLITKOVSKIJ beginnt sich zu dieser Zeit für den Alkohol zu interessieren. Mit seiner Arbeit läuft es nicht mehr gut. Nach der Ermordung eines Journalistenkollegen erreicht er seinen psychischen Tiefpunkt. Die Beziehung zu Anna zerbricht nach 21 Jahren Ehe unter der Schwere seiner persönlichen Probleme.

Im Februar 2001 bekommt Anna POLITKOVSKAJA am eigenen Leib zu spüren, worüber die Menschen in Tschetschenien ihr so oft berichtet haben. Sie wird im tschetschenischen Vedeno von russischen Soldaten verhaftet und stundenlang verhört. Für drei Tage hält man sie in einem Bunker fest, droht ihr Vergewaltigung und die Misshandlung ihrer Kinder an, beschimpft sie und wirft ihr vor, zum Netzwerk des tschetschenischen Rebellenführers BASSAJEV zu gehören. BASSAJEV gilt als einer der brutalsten Protagonisten im Tschetschenien-Konflikt. Der Oberstleutnant lässt sie frei mit den Worten: ‚Wäre es nach mir gegangen, hätte ich dich erschossen’. Trotz dieser Erfahrung versucht sie stets Neutralität zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Widerstandskämpfern zu gewahren, spart es aber nicht aus, die Täter beim Namen zu nennen. Insbesondere äußert sie Kritik an der von Moskau unterstützten Führung in Tschetschenien. Konkret am damaligen tschetschenischen Premier und heutigen Präsidenten Ramzan KADYROV, der ihrer Meinung nach das ganze Land terrorisiere. Dem russischen Präsidenten Vladimir PUTIN wirft sie in diesem Zusammenhang vor, jenes nicht nur zu dulden, sondern bewusst zu steuern. Nachdem PUTIN KADYROV seine eigene Mördermiliz, die so genannte „Kadyrovqi“, gewährt, verbietet der Chefredakteur der Novaja Gazeta Anna POLITKOVSKAJA weiterhin in die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu fliegen.

„Wenn ich nicht mehr schreibe, haben meine Feinde ihr Ziel erreicht“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA weiß um die Gefahr. Dessen ungeachtet nimmt die Regierungs- kritikerin kein Blatt vor den Mund. Morddrohungen und Verhaftungen zum Trotz kritisiert sie PUTIN für seine rassistische Staatsführung, für die Kriege in Tschetschenien, für Folter und Drangsal in der russischen Armee und die konsequente Hetzjagd auf kremluntreue Journalisten. Ihrer Ansicht nach ist die „Wahrheit […] durch die Propaganda […] und durch eine um den Verstand gebrachte Medienlandschaft [ersetzt worden]. Das alles zu Gunsten einer Macht, die davon ausgeht, dass sie Russland sei und aus diesem Grund am besten wisse, was Russland brauche“ (Anna POLITKOVSKAJA). Ihre Kritik an der Kreml-Politik verschafft Anna POLITKOVSKAJA Feinde in hohen Regierungsämtern.

Insbesondere in Kreisen westlicher Menschenrechtsorganisationen wird ihr Name durch ihre Publikationen zum Tschtschenienkrieg ein Begriff. Anna POLITKOVSKAJAS lebensgefährliches Engagement und ihre persönliche Courage werden – als reiche der Mut nicht für mehr – mit diversen journalistischen Auszeichnungen versehen. Die daraus resultierende Popularität erscheint ihr fälschlicherweise als ein Schutzschild. Gleichwohl übt sie Kritik an der westlichen Welt. Sie wirft ihr vor, sich nicht für Russland und seine Menschen, sondern nur für das Gas und das Öl zu interessieren. Immer wieder beklagt sie Deutschlands enge Freundschaft zu PUTIN.

„Auf meiner Suche nach Unterstützung ziehen sie an meinen Augen vorüber, die Hauptstädte der Welt. Im Frühjahr war ich in Amsterdam, Paris, Genf, Manila, Bonn, Hamburg … Überall die Bitte, ‚eine Rede zu halten über die Situation in Tschetschenien‘ – und das Resultat gleich Null. Nur höflicher ‚westlicher‘ Beifall als Reaktion auf die Mahnung: ‚Vergessen Sie nicht, dass in Tschetschenien weiterhin jeden Tag Menschen umkommen. Auch heute’“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA verfolgt die „Mission“, die Wahrheit über die Verhältnisse in Tschetschenien und die Zustände in Russland ans Licht zu bringen. Ihr Pflichtbewusstsein für ihre Arbeit und die Annahme der Rolle als Stimme für die Menschen, die unter dem Krieg in Tschetschenien leiden, sind stärker als ihre Angst. „Sie ist ein sehr harter Mensch und genauso anspruchsvoll ist sie gegenüber ihrer Umwelt. Diese Härte fiel einem sehr schwer auszuhalten. Aber wir haben uns gegenseitig stets normal und mit Respekt behandelt“ (Alexander POLITKOVSKIJ). Ihr Arbeitspensum überbietet dass eines Top-Managers. Sie nimmt sich vor, was kaum zu schaffen ist.

„Ich bin überzeugt von dem, was ich tue. Damit bin ich im Einklang mit mir selbst“ (A. P.).

Ihre ursprünglichen Ambitionen, Souveränität und Kompromisslosigkeit, bewahrt sie sich. Ihr Prinzip: alles veröffentlichen, ohne die Folgen für sich zu bedenken. So verlässt sie beispielsweise Moskau 2001 als Reaktion auf Morddrohungen, nachdem sie einen Artikel veröffentlicht hat, in dem sie das russische Militär in Tschetschenien belastet. Die ihr angeblich sehr ähnlich sehende Nachbarin wird einen Tag nach ihrer Abreise ermordet aufgefunden. Anna POLIT- KOVSKAJA lebt für einige Monate in Wien, kehrt jedoch bald nach Moskau zurück.

2002 besetzen maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – das Dubrovka-Theater in Moskau und bringen knapp 800 Gäste in ihre Gewalt. Anna POLITKOVSKAJA bietet sich zur Vermittlung als Geisel an. Sie wird als Unterhändlerin für die Verhandlungen akzeptiert und versorgt die Festgehaltenen mit Wasser. Den Sturm der russischen Spezialeinheiten und damit den Tod von über 100 Menschen kann sie jedoch nicht verhindern. Unmittelbar danach äußert sie Kritik an der Vorgehensweise der Polizeieinheiten. Anna POLITKOVSKAJA recherchiert das Vorgehen der russischen Behörden während des Sturms auf das Theater auch dann noch, als viele die Hoffnung auf Klärung bereits aufgegeben haben.

2004 besetzen in Beslan maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – eine Schule. Bei der Befreiungsaktion durch russische Spezialeinheiten sterben einige Hundert Menschen, darunter viele Kinder. Kritische Journalisten vermuten hinter der Schulbesetzung eine geplante Aktion des russischen Geheimdienstes FSB – die Nachfolgeorganisation des KGB – zur Stabilisierung des Feindbildes „tschetschenische Terroristen“ und damit zur Rechtfertigung der Militäreinsätze im Nord-Kaukasus. Als auch Anna POLITKOVSKAJA sich nach Beslan aufmacht, wird ihr eine Tasse Tee auf dem Flug – sie nimmt in der Regel nur selbst mitgebrachte Nahrung zu sich – zur verhängnisvollen Ausnahme. Erstmalig wird Anna POLITKOVSKAJA Opfer eines Giftanschlags. Sie verliert das Bewusstsein und wird somit an der Einreise gehindert. Die Täter bleiben unbekannt.

Im Mai 2005 wird Anna POLITKOVSKAJAS parkendes Auto von unbekannten Männern demoliert. Im Oktober versuchen Unbekannte mit einem Mercedes Jeep ihren Wagen von der Straße abzudrängen. An diesem Tag fährt jedoch ihre Tochter das Fahrzeug. Es stellt sich quer, die Männer zerschlagen die Scheiben. Die Täter bleiben unbekannt.

Ein Jahr später, am 07. Oktober 2006, dem Geburtsdatum von Präsident PUTIN, wird Anna POLITKOVSKAJA im Aufzug ihres Wohnhauses mit vier Pistolenschüssen ermordet. Der fünfte, so genannte Kontrollschuss, wird gezielt auf den Kopf abgefeuert. Die Kamera am Haus filmt einen jungen Mann. Die Polizei nimmt die Fahndung auf. Gerüchten zufolge sind mehrere Personen an dem Mord beteiligt gewesen. Die Täter bleiben unbekannt.

Raubmord wird ausgeschlossen. Politischer Mord? Möglich. Der stellvertretende Moskauer Staatsanwalt Vjatschislav ROSSINSKI mutmaßt, dass Anna POLITKOVSKAJAS journalistisches Engagement ihr Leben verantworte. Auch für den Oppositionsabgeordneten Vladimir RYSCHKOV ist die Tat politisch motiviert. Nach Präsident PUTIN nimmt die Reputation Russlands deutlich mehr Schaden durch den Mord an der Journalistin als durch deren Artikel. Der vom Kreml ins Amt des tschetschenischen Präsidenten gehobene Ramzan KADYROV beschuldigt den milliardenschweren Unternehmer und PUTIN-Gegner Boris BERESOVSKI – der im Exil in Großbritannien lebt – für den Mord an Anna POLITKOVSKAJA verantwortlich zu sein. Für die Redaktion der Novaja Gazeta sind die Anschuldigungen unhaltbar und dienen ihrer Ansicht nach dazu, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. So leiten die Verantwortlichen der Zeitung eigene Ermittlungen ein und setzen ein Kopfgeld von 25 Millionen Rubel (740.000 Euro) für der Aufklärung dienliche Hinweise aus.

Der Großteil der russischen Bevölkerung steht dem Ereignis gelassen gegenüber. Der Fall beinhalte keinen Symbolcharakter und sei nur einer von vielen vergleichbaren in Russland, meldet eine Petersburger Senatorin. Die Aufmerksamkeit der westlichen Medien für den Tod Anna POLITKOVSKAJAS spiegelt darum nicht zwangsläufig die Resonanz auf den Mord in ihrer Heimat Russland wieder.

In der westlichen Welt eignet sich der Vorfall des Mordes an einer couragierten und für den Kreml unbequemen, sich für die Menschenrechte einsetzenden Reporterin als Symbol für einen Anschlag auf die Pressefreiheit und insbesondere den investigativen Journalismus. Auch wenn der Name Anna POLITKOVSKAJA in Folge von verschiedenen Ehrungen im Westen bekannter ist als der von vielen ihrer ermordeten (und noch aktiven) Mitstreiter im Kampf um Gerechtigkeit, verhilft erst der Mord an der Person POLITKOVSKAJA dieser zu Ehre und Ansehen auch innerhalb der Massenmedien. So schnell die mediale Popularität POLITKOVSKAJAS auftaucht, so schnell verschwindet sie wieder von der Agenda westlicher Medien.

(NKL, VIL, MAH, THK)

Dossier TSCHETSCHENIEN

Neuer Chefermittler im Mordfall Politkowskaja (SPIEGEL online, 04.09.07)

Festnahme im Mordfall Politkowskaja (SPIEGEL online, 15.9.07)

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Pressefreiheit in Russland

von Johannes Ludwig

Pressefreiheit und Meinungsvielfalt lassen sich unterschiedlich messen. Wissenschaftliche Messungen würden z.B. auf die Anzahl von Verlagen oder Tageszeitungen pro 1.000 Einwohner abstellen und diese mit anderen Ländern vergleichen. Oder Fernsehsendungen und Zeitungsberichte inhaltsanalytisch auswerten und zählen, wie oft die Meinung der Regierenden und wie oft (bzw. selten) die Ansichten der Opposition zum Ausdruck kommen.Beides ist in Russland schwierig.Zum einen ist das Land ist riesig. Es zerfällt in eine große Zahl unterschiedlicher Völker, Stämme, Sprachgebiete, Religionen und kulturelle Identitäten. Dies ist ja auch der Hintergrund des Tschetschenienkonfliktes seit Jahrhunderten. Öffentliche Kommunikation und Medien haben in den einzelnen Ländern und Regionen eine teilweise sehr unterschiedliche Funktion.

Im ‚klassischen’ Russland selbst, also jenem Teil, den wir Europa zurechnen und in dem auch Moskau liegt, befindet sich das Land seit 1990 in einem permanenten Umbruch. Vieles, was gestern war, gilt heute nicht mehr. Und da fast alles in ständigem Wechsel begriffen und das ‚neue’ Land wenig strukturiert und dazu auch noch riesengroß ist, haben wir im Westen nicht wirklich einen wirklichkeitsgetreuen Überblick, was dort alles geschieht. Auch deshalb sind Aussagen über dieses und jenes schwierig.

Sicher ist nur, dass auch im europäischen Teil Russlands – bzw. der russischen Förderation, wie sich das Land selbst bezeichnet – auch der allergrößte Teil der russischen Medien anders funktioniert als hier zu Lande oder in anderen westeuropäischen Regionen. Man muss ein wenig die (kleine) Vorgeschichte kennen.

System JELZIN versus System PUTIN

Russland versank nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Reiches (UdSSR: Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Russlands) 1990 im Chaos. Unter Präsident Bors JELZIN und der Umstellung auf Marktwirtschaft wurden clevere Geschäftemacher zu so genannten Oligarchen, die sich die ehemals volkseigenen Großbetriebe zu eigen machten, Banken gründeten sowie Zeitungen und Fernsehstationen aufkauften. Die wurden zum Sprachrohr ureigener Interessen im politischen Chaos eingesetzt. Da JELZIN ein Mann der Macht war, ließ er die Oligarchen in jeder Hinsicht gewähren, weil sie ihn – zugunsten ihrer eigenen Geschäfte – politisch unterstützten.

Nach JELZIN kam PUTIN und der setzte diesem Spuk der Selbstbedienung ein Ende: die Oligarchen mussten ins Ausland fliehen (z.B. BERESOVSKY) oder wurden via Gerichtsprozess in sibirische Arbeitslager verbannt (z.B. CHODORKOVSKY) – GULAG unter PUTIN. Die großen Betriebe gingen zurück in das Eigentum des Staates und wer sich gegen den Kreml und die Regierenden stellte, hatte (ganz) schlechte Karten.

Auch die Medien, die ehemals im Besitz der Großindustriellen waren, sind nun wieder zum allergrößten Teil Eigentum des Staates. Entweder gehören sie über verschachtelte Konstruktionen zur Firma Gazprom, die Eigentum des russischen Staates ist und dem Einfluß des Kreml unterliegt. Mit den gigantischen Deviseneinnahmen aus dem Verkauf von Gas und Erdöl saniert(e) PUTIN das Land wirtschaftlich.

Oder aber: die Medien, insbesondere die Zeitungen unterstehen direkt den Behörden oder gleich den Gouverneuren in den einzelnen Landesteilen der russischen Förderation (mehr zum Staatsaufbau hier …). Die Gouverneure sind die jeweiligen ‚Landesfürsten’, wurden früher in freien Wahlen bestimmt. Seit PUTIN werden sie direkt vom Kreml eingesetzt: von PUTIN (so z.B. auch in Tschetschenien).

Das System JELZIN liess sich so beschreiben: schwacher Staat und.große Macht der Oligarchen. Für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands und seiner Bevölkerung war dies allerdings nicht zum Vorteil – immer mehr Menschen verarmten.

Das System PUTIN funktionert genau andersherum: starker Staat, die Wirtschaft ebenfalls in zentralen Bereichen in den Händen der Regierung, die egoistischen Oligarchen verbannt. Die enormen Einnahmen aus den russischen Exportgeschäften fördern den wirtschaftlichen Aufschwung, den allermeisten Menschen geht es besser als je zuvor. Der Rückhalt PUTIN’s in der Bevölkerung wuchs, weil man erst etwas zu essen braucht, bevor man sich informieren möchte.

Systeme ohne freie Presse

Die Presse bzw. die Pressefreiheit hat von keinem der beiden Systeme profitiert. Seit 1994 haben über 200 Journalisten und Reporter ihre Arbeit mit dem Leben bezahlt: sie wurden entweder ermordet, fanden durch merkwürdige Unfälle den Tod oder sind auf myseriöse Weise verschwunden. Das letzte Opfer war Anna POLITKOVSKAJA – sie wurde (symbolträchtig?) am 7.Oktober 2006, am Tag von PUTIN’s Geburtstag, vor ihrer Wohnungstür mit mehreren Schüssen niedergestreckt.

PUTIN, den der Ex-Bundeskanzler und Duz-Freund Gerhard SCHRÖDER auch heute noch für einen „lupenreinen Demokraten“ hält, fürchtet sich ganz offensichtlich vor Meinungsvielfalt und Pressefreiheit. Deswegen sind alle Fernsehstationen direkt oder indirekt unter staatlichem Einfluss, fast alle großen und wichtigen Zeitungen in der Hand des Staates, ebenso der Hörfunk.

Die Anzahl jener Medien, die eine gewisse Größe und publizistische Bedeutung haben und die frei und unabhängig agieren, lassen sich an weniger als fünf Finger einer Hand abzählen. Dazu gehört z.B. die Novaja Gazeta, über die wir hier einige Informationen zusammengestellt haben. Oder die Hörfunkstation Echo Moskwy, die zu einem Drittel den dort arbeitenden Journalisten, zu zwei Dritteln allerdings Gazprom gehört. Dieser Sender hat sich – trotz der Kapitalbeteiligung des staatlichen Gaskonzerns – in seiner Berichterstattung, frei von politischer Einflussnahme, (bisher) halten können. (…) MEHR

Dossier TSCHETSCHENIEN

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Tschetschenien – der vergessene Krieg

Tschetschenien liegt weit weg – in Kilometern gerechnet und in Einheiten öffentlicher Wahrnehmung. Obwohl in einigen Zeitungen ab und an Meldungen aus dem fernen Land auftauchen.

Im April 2007 gab es wieder meldenswerte Neuigkeiten: Ramsan KADYROV (KADYROW), Amateurboxer und Anführer der so genannten Kadyrowzy, einer schwerbewaffneten privaten Söldnertruppe, und Sohn des 2004 bei einer Bombenexplosion umgekommenen Präsidenten von Tschetschenien Achmad KADYROV, wurde nun selbst Präsident – er war Wladimir PUTIN’s (einziger) Kandidat, und so war es dann auch gekommen. Bis dahin hatte er sich um den „Aufbau“ des Landes verdient gemacht und bekam von Russlands Präsident PUTIN den Orden „Held Russlands“ verliehen – eine hohe Auszeichnung.

KADYROV’s verdienstvoller Job: mit seinen Tausenden von Privatsöldnern Aufständische, d.h. „Terroristen“ zu eliminieren. Als Terrorist gilt, nachdem das Land wieder unter russischer Oberhoheit steht, sprich offiziell unwidersprochen Bestandteil der „Russischen Föderation“ ist, jeder, der ernsthaft von der Unabhängigkeit Tschetscheniens zu träumen wagt.

Offiziell gibt es in Tschetschenien nicht mehr Krieg – auch die beiden Tschetschenienkriege 1994-1995 und 1999-2000 sind offiziell immer für „beendet“ deklariert worden. Tatsächlich aber sind Übergriffe, Entführungen, Mord und Vergewaltigungen, Terror und Einschüchterungen an der Tagesordnung. Dies berichten immer wieder (sehr wenige) Informanten, Menschenrechtsorganisationen und andere parlamentarische Untersuchungskommissionen, sofern sie in das Land hineingelassen werden.

Medien, d.h. Pressevertreter dürfen und können nur mit offizieller Anmeldung und Genehmigung nach Tschetschenien. Alles wird überwacht und streng kontrolliert: der Flughafen, die wenigen Eisenbahnlinien, alle Strassen. Staatliche „Führer“ folgen Medien auf Schritt und Tritt – eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich.

Trotzdem gibt es immer wieder Journalisten, die es im Dienste der Öffentlichkeit riskieren. Anna POLITKOVSKAJA war eine von ihnen – rund 50 heimliche Recherchereisen hatte sie unternommen und letztlich dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Zwei Moskauer Korrespondenten aus Deutschland, Tomas AVENARIUS für die Süddeutsche Zeitung und Florian HASSEL für die Frankfurter Rundschau, hatten sich 2002 zusammengetan, obwohl sie eigentlich ‚Konkurrenten’ waren. Sie sind ebenfalls heimlich und unerkannt nach Tschetschenien gefahren, um von dort – wenigstens zwischendurch mal – authentisch darüber berichten zu können, was dort vor sich geht.

„Der Vergessene Krieg“ – so haben sie ihre Berichte beschrieben, die in Deutschland parallel in der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Frankfurter Rundschau (FR) zu lesen waren.

Da Tschetschenien auch in unserer Aufmerksamkeit oder Gedächtnis weit weg ist, haben wir – um die Zusammenhänge deutlich zu machen – 2 Chronologien über das Land zusammengestellt: einen kurzen Überblick, in dem nur die allerwichtigsten Informationen ganz knapp enthalten sind, und eine etwas längere Chronologie, die auch ein klein wenig historisch den Ablauf der Ereignisse erklären kann.

Derjenigen, der im Westen das größte Verdienst um Aufklärung gebührt, ist ein ausführliches Portrait gewidmet: Anna POLITKOVSKAJA.

Über die Zeitung, für die sie geschrieben hatte, die Novaja Gazeta in Moskau, wird es künftig Informationen beim Wächterpreis geben. Das kleine, aber unerschrockene Blatt, hat 2007 den Henri-Nannen-Preis für ihr Engagement in Sachen Pressefreiheit zugesprochen bekommen.

Über eine andere Zeitung aus Tschetschenien für Tschetschenien, die sich in den ganzen kriegerischen und politischen Wirren bis heute unabhängig erhalten konnte, werden wir zeitnah ebenso informieren. Die Zeitung publiziert auch in englischer Sprache: Tschetschenskoe bzw. Chechen Society.

Offiziell existieren in Russland demokratische Spielregeln und ebenso amtlich bestätigt herrscht dort Pressefreiheit. Wir stellen einige Informationen zusammen, die dieses Bild ein wenig trüben: Pressefreiheit in Russland.

Dazu gehört – leider – auch eine Liste all der Namen, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung aus oder über Tschetschenien ums Leben gekommen sind: Getötete und ermordete Journalisten.

Redaktion Wächterpreis

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