ansTageslicht.de

Blog: Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen

Europäischer Menschengerichtshof zu Whistleblowing

Dass Whistleblowing nichts mit „Denunziantentum“ oder gar „Blockwartmentalität“ zu tun (wie einige ewig Gestrige meinen), hat gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassbourg entschieden. „Whistleblowing“ kann gesamtgesellschaftlich sogar positive Effekte haben, meinten die Richter in ihrer wegweisenden Entscheidung zu einem konkreten Fall: Um die couragierte Altenpflegerin aus Berlin, Brigitte HEINISCH, die es vor mehreren Jahren nicht mehr mit ansehen konnte, dass ältere pflegebedürftige Menschen z.B. bis nachmittags in ihrem Urin und Kot liegen müssen, weil das Unternehmen Vivantes GmbH, das in Berlin mehrere Seniorenheime betreibt, aus Kostengründen zu wenig Pflegekräfte beschäftigt. Vivantes will ihre Heime als „Profitcenter“ führen.

Brigitte HEINISCH stellte daraufhin mehrere Überlastungsanzeigen in der Hoffnung, ihr Arbeitgeber würde diese Missstände beseitigen. Auch alle weiteren Versuche nützten nichts. Als die Altenpflegerin, wie angekündigt, eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattete (wegen Betrugs), stellte die Berliner Staatsanwaltschaft das Verfahren kurzerhand wieder ein. Auch die Fa. Vivantes reagierte: mit Kündigung. Im ersten Arbeitsgerichtsverfahren obsiegte Brigitte HEINISCH, vor dem Landesarbeitsgericht Berlin verlor sie. Dessen Richter negierten fast alles: teilweise nicht nur die Fakten, sondern auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem Arbeitnehmer sehr wohl auch gegen ihren Arbeitgeber Strafanzeige erstatten dürfen ( wenn notwendig), ohne mit arbeitsrechtlichen Sanktionen rechnen zu müssen. Eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht ließen die Arbeitsrichter nicht zu und auch das oberste Arbeitsgericht lehnte eine Nichzulassungsbeschwerde ab. Ebenso das Bundesverfassungsgericht. Die ganze Geschichte ist bei ansTageslicht.de schon lange dokumentiert unter www.ansTageslicht.de/Heinisch.

Brigitte HEINISCH bemühte daraufhin den Europäischen Menschengerichtshof, der jetzt in einem bahnbrechenden Urteil vom 21. Juli 2011 (Az 28274/08) klarstellte, dass Whistleblowing vom Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention abgedeckt ist. Die Richter gingen noch weiter und stellten klar,

  • „dass in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege … so wichtig ist, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiegt“
  • dass die die Kündigung als „härteste arbeitsrechtliche Sanktion“ auch „eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Unternehmens gehabt und sie davon abgehalten haben“ könnte, „auf Mängel hinzuweisen“. Damit könnte dies „gesamtgesellschaftlich einen negativen Effekt gehabt haben“.

Im Ergebnis bedeutet dies künftig eine Veränderung der Arbeitsrechtssprechung, wenn Whistleblower auf Missstände hinweisen, die sie zum Wohl aller anderen beseitigt sehen wollen: Couragierte Mitarbeiter können nicht mehr ohne weiteres entlassen werden. Eigentlich sollte dies auch im wohlverstandenen Interesse der betroffenen Unternehmen und Institutionen sein. Bis sich allerdings eine positive Kritikkultur durchsetzt, wird es wohl noch eine Weile dauern. Andere bei ansTageslicht.de dokumentierte Fälle von engagierten, aber inzwischen entlassenen Mitarbeitern belegen dies (mehr unter www.ansTageslicht.de/Whistleblower): Das DokZentrum, das in diesem Themenfeld eng mit dem Whistleblower-Netzwerk zusammenarbeitet (www.whistleblower-netzwerk.de), hat bisher über 20 solcher Fälle rekonstruiert, weitere sind in Vorbereitung.

ansTageslicht.de wird jetzt im nächsten Schritt

  • die Fa. Vivantes fragen, wie sie mit diesem Richterspruch umzugehen gedenkt und ob sie, um ein Zeichen zu setzen, die Altenpflegerin wieder einstellen wird, zum Beispiel als Beauftragte für Qualitätssicherung?
  • Wie die Richter am Landesarbeitsgericht Berlin zu reagieren gedenken, nachdem der Europäische Menschengerichtshof ihr Urteil als mit der Meinungsfreiheit kollidierend (ab)qualifiziert hat?

Das DokZentrum wird über Antworten und Reaktionen berichten.

Filed under: Deutschland, EGMR, EU, Gesellschaft, Whistleblowing