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Blog: Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen

Interviews zu Recherchen in Tschetschenien

Am 7. Oktober 2006 wurde die russische Journalistin Anna Politkowskaja in Ihrer Wohnung in Moskau ermordet. Zuletzt arbeitete sie an einem Bericht für die Zeitung Nowaja Gazeta über die unmenschlichen Folterverbrechen innerhalb Tschetscheniens.

Politkowskaja schrieb, wie sie selbst es nannte, gegen das Einlullen der Gesellschaft. Ihre recherchen setzten dort an, wo Ermittlungen wider jeder Vernunft eingestellt wurden.

Auch Tomas Avenarius (Süddeutsche Zeitung) und Florian Hassel (Frankfurter Rundschau) berichteten aus den Kriegsgebieten Tschetscheniens. Die Sicherheitsmechanismen und das brutale Vorgehen der Regierung Kadyrows gegen recherchierende Journalisten haben sich bis heute weiter verschärft. Nur wenige Informationen erreichen uns noch.

Für Ihre Courage sowie ihre Arbeiten und auch das aufgenommene Wagnis erhielten beide Autoren im Jahre 2003 den Wächterpreis der Tagespresse. Im DokZentrum für couragierte Reportagen finden Interessenten neben den Interviews zur riskanten Mission der beiden Journalisten, ein ausführliches Portrait zu Anna Politkowskaja, eine Chronologie des Tschetschenienkonflikts, Berichte und eine Zustandsskizze zur Pressefreiheit in Russland. MEHR

(mah)

Dossier TSCHETSCHENIEN

Filed under: Dokumentation, Hintergründe, Interview, investigativer Journalismus, Journalismus, Krieg, Portrait

Journalisten, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Tschetschenien ermordet wurden:

Diese Aufstellung basiert auf einer Dokumentation von Oleg PANFILOV, Initiator des „Center of Journalism in Extreme Situations (CJES) in Moskau: www.cjes.ru/index-e.php. Die Dokumentation ist direkt erreichbar (in russischer Sprache) unter www.memorium.cjes.ru

1. Tschetschenienkrieg (1994-1996)

GUZUEV, Hussejn
gestorben am 26.11.1994
Rundfunk Staatskomitee der Tschetschenischen Republik, Vorsitzender

Getötet bei einem Feuergefecht während des Sturmangriffs auf Groznyj durch russische Truppen.

TSCHARIGOV, Gelani
gestorben am 14.12.1994
Fernsehen der Tshetschenischen Republik, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann

Gestorben an Schwerverletzungen bei einem Luftangriff der russischen Luftarmee.

ELBAUM, Cynthia
Gestorben am 22.12.1994
Zeitschrift Time, USA, freie Journalistin

Ums Leben gekommen während der Luftbombardierung von Groznyj durch russische Truppen

AKHMADOV, Bilal
1972 – 31.12.1994
Fernsehen der Tschetschenischen Republik, Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Ermordet in der Nähe vom Eisenbahn-Bahnhof Groznyjs.

ZHITARENKO, Vladimir
15.06.1942- 01.01.1995
Zeitung Krasnaja Zvezda (Rotes Stern), Moskau, Russland, Korrespondent

Ermordet in der Nähe von Groznyj. Es bestehen 3 Versionen des Mords. Die offizielle Version: Tod als Folge eines Beschusses mit Granatwerfern durch russische Landungstruppen. Eine zweite Version stammt vom Innenministerium der Russischen Föderation und besagt, dass ZHITARENKO von einem tschetschenischen Scharfschützen in den Kopf erschossen wurde. Die Version des Journalisten Oleg BLOZKIJ lautet, dass ZHITARENKO von russischen Wachsoldaten erschossen wurde, nachdem er keine zutreffende ‚Parole’ nennen konnte

NURIEV, Sultan
gestorben am 07.01.1995
Freier Journalist

Keine weiteren Angaben vorhanden

PIEST, Jochen
gestorben am 10.01.1995
Stern, Deutschland, Korrespondent

Jochen PIEST erlitt am 10. Januar 1995 an der Bahnstation Tscherwijlonnajn, 25 Kilometer von Grosny entfernt, drei tödliche Schussverletzungen. Ein tschetschenischer Partisan hatte den 30-jährigen Moskauer Stern-Korrespondenten von einer Lokomotive aus unter Feuer genommen. Der Reporter war auf dem Weg in den Kaukasus, um über den tschetschenischen Widerstand zu berichten

JANUS, Valentin Alexandrovich
26.09.1940-14.01.1995
GTRK Pskov – staatlicher Fernsehsender, Pskov, Russland, Kameramann

Es existieren zwei Versionen über den Tod. Nach mehreren Angaben war er zum fraglichen Zeitpunkt am Ort der Stationierung russischen Landungstruppen aus Pskov und wurde dabei erschossen. Nach einer anderen Version wurde JANUS beim Drehen in einem russischen Panzer getötet. Dabei entstand die letzte Videoaufnahme von ihm beim Sturm der russischen Landungstruppen auf die tschetschenische Präsidentenresidenz in Groznyj

SCHABALIN, Maxim
vermisst seit dem 27.02.1995
Nevskoe Vremja, St. Petersburg, Russland, Korrespondent

Zuletzt gesehen – zusammen mit seinem Kollegen Felix TITOV – in Nazran/Tschetschenien am 27. Februar 1995. Am 4. März sollte der Korrespondent wieder am Arbeitsplatz seiner Zeitung in St. Peterburg erscheinen. Beide hatten zusammen auch aus dem Kosovo und Nagornyi Karabach berichtet

TITOV, Felix
vermisst seit dem 27.02.1995
Nevskoe Vremja, St. Peterburg, Russland, Bildkorrespondent

Zuletzt gesehen in Nazran/Tschetschenien, zusamen mit seinem Kollegen Maxim SCHABALIN, am 27. Februar 1995. Am 4. März sollten die beiden Korrespondenten eigentlich wieder in der Zeitungsredaktion in St. Peterburg auftauchen. Beide hatten u.a. auch aus dem Kosovo und Nagornyi Karabach berichtet

Die St.Petersburger Zeitung Nevskoye Vremja, für die Maxim SCHABALIN und Felix TITOV gearbeitet haben, 2004 den Gerd-Bucerius-Förderpreis „Junge Presse Osteuropa“ zugesprochen bekommen.

ZEBIEV, Ruslan Ahmedovich
1972-31.03.1995
Fernsehsender Presidentskij Kanal (Präsidentenkanal), Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Die Leiche wurde in einer Grube in der Nähe seines eigenen Hauses gefunden. Außer seiner Tätigkeit beim Presse-Dienst des tschetschenischen Präsidenten Dschohar DUDAEV, war er auch beim Radiosender Vostok (Osten) tätig.

SULEJMANOVA, Alkan
Gestorben am 06.05.1995
Zeitung Ichkeria, Groznyj, Tschetschenien, Korrespondentin

Umgekommen während der Bombardierung der Objekte (???was waren das für Objekte???) von tschetschenischen Kämpfern in den Umgebungen der Siedlung Schatoj (50 km südlich von Groznyj)

KERIMOV, Farhad Asker ogly
Nachrichtenagentur AP (USA), Kameramann des Teledienstes
11.12.1948-22.05.1995

Erschossen im Wald in der Nähe der Siedlungen Sajasan und Schuani, 44 km südlich von Groznyj. Die Leiche wurde von seinem Bruder nach einigen Tagen identifiziert. Nach Angaben der Zeitschrift Soldat Udachi, wurde Kerimov aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit den russischen Sicherheitsdiensten von tschetschenischen Kämpfern erschossen

ALJAKINA, Natalja
erschossen am 17.06.1995 http://www.aktuell.ru – Deutsch-russische Nachrichtenagentur, Deutschland, Korrespondentin, u.a. auch für Focus

Natalia und ihr deutscher Ehemann, der Journalist Gisbert MROZEK sowie der Fotokorrespondent Oleg NIKISCHIN waren an diesem Tag auf dem Weg nach Budjonovsk – sie wollten über die Geiselnahme tschetschenischer Rebellen in einem Krankenhaus berichten. An der Stadtgrenze wurde ihr Wagen für eine übliche Kontrolle der Papiere durch russische Soldaten des Innenministeriums angehalten, dann durchgewunken. Wenige Meter danach wurden sie von hinten durch ein Bordmaschinengewehr eines Panzers von der Kontrollstation aus beschossen – angeblich aus Versehen hätten sich zwei Schüsse gelöst, so die Version später vor einem Militärgericht. Gisbert MROZEK, der unversehrt blieb, zieht aus den widersprüchlichen Zeugenaussagen und dem offenkundigen Desinteresse des Militärstaatsanwalts den Schluss, dass absichtlich geschossen wurde, nicht um die drei Journalisten zu töten, aber einzuschüchtern.

IVANOV, Sergej
Vermisst seit dem 21.06.1995
Freier Fotojournalist, St. Peterburg, u.a. für die Zeitung Nevskoe Vremja

hatte an einer der Such-Expeditionen in Tschetscheniten nach zwei vermissten Korrespondenten (SCHABALIN und TITOV) der Zeitung Nevskoe Vremja teilgenommen. Um mehr herausfinden zu können, begab sich der Journalist selbstständig zu den südlichen Gebirgsgebieten Tschetscheniens. Am 21. Juni 1995 erhielt Georgij SCHABALIN, Vater von Maxim SCHABALIN, der ebenfalls zwecks Aufspüren seines Sohnes nach Tschetschenien gekommen war, eine Nachricht, dass IVANOV in 2-3 Tagen nach Atschhoj-Martan zurückkehren würde. Es war die letzte Nachricht über Sergej IVANOV. Bis heute weiß man nichts mehr über den Verbleib aller drei Medienleute

KAGIROV, Schamhan Abdurahmanovich
Gestorben am 12.12.1995
Rossijskaja Gazeta, Moskau, Russland, Korrespondent

KAGIROV und drei Miliz-Beamte waren auf dem Weg zu einem der Wahlbezirke (20 km von Groznyj), als der Wagen vermutlich von tschetschenischen Kämpfern beschossen wurde

IVLIEV, Alexej
MOLCHANOV, Evgenij
PLATONOV, Stanislav
ZALOEV, Batyr

Alle umgekommen am 24.12.1995
Fernsehsender NTV, Moskau, Russland

12 km hinter Groznyj kamen der Korrespondent Alexej IVLIEV, sein Kameramann Evgenij MOLCHANOV, der Tonmann Stanislav PLATONOV sowie ihr Fahrer Batyr ZALOEV bei einem Autounfall ums Leben. Sie waren auf dem Weg nach nach Nazran, um die aufgenommenen Materialien mit Hilfe einer dort vorhandenen Relaisverbindung nach Moskau zu kabeln

PIMENOV, Viktor
gestorben am 11.03.1996
Fernsehsender Vainah, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann

Vermutlich Opfer von tschetschenischen Scharfschützen geworden

TSCHAJKOVA, Nadezhda
1963-30.03.1996
Obschaja Gazeta (Allgemeine Zeitung), Moskau, Russland, Korrespondentin

Nach der gerichtlichen medizinischen Expertise wurde TSCHAJKOVA mit einer „Makarow“ erschossen. Zuvor war sie schwer geschlagen worden und anschließend mit verbundenen Augen von hinten in den Kopf erschossen. Es wird vermutet, dass die Leiche erst nach der Tat an der Siedlung Gechi abgelegt wurde

JAGODIN, Anatolij Benediktovitsch
gestorben am 18.04.1996
Zeitschrift Na boevom postu, Zeitschrift des russischen Innenministeriums in Moskau, militärischer Status: Hauptleutnant, von Beruf Korrespondent

Vor dem Kosakendorf Assinovskaja gerieten die Panzer der Sofrinskaja Brigade der tschetschenischen Innentruppen (Miliz), wo sich auch Anatolij JAGODIN befand, an das Versteck (Hinterhalt) von tschetschenischen Separatisten. Die Aufgabe des Korrespondenten hätte in der Beschreibung der Rückkehr der russischen Armee bestanden

EFIMOVA, Nina
gestorben am 08.05.1996
Zeitung Vozrozhdenie (Wiedergeburt), Groznyj, Tschentschenien, Korrespondentin

Die Leiche der Korrespondentin wurde vor dem Gebäude des Öl-Technikums in Lenin Rajon (Bezirk) in Groznyj gefunden. Die Nachrichtenagentur ITAR-TASS und RIA-Novosti berichteten, die Journalistin und ihre Mutter seien in der Nacht vom 7. Mai entführt und mit dem Kopfschuss getötet worden. Als Hintergrund könnten letzte Publikationen der Journalistin über Kriminalität gewesen sein

HADZHIEV, Ramzan
14.11.1955-11.08.1996
ORT, Moskau, Russland, Korrespondent

Am 11. August erlitt der Korrespondent 2 tödliche Schussverletzungen am Block-Wachposten in der Nähe von Groznyj aus dem Maschinengewehr eines Panzers von Soldaten der russischen Föderaltruppen

GOGUN, Ivan
Gestorben am 20.08.1996
Zeitung Groznenskij Rabochij (Groznyjer Arbeiter), Groznyj, Korrespondent

Schwer verletzt in Groznyj, danach im Krankenhaus von Vladikavkaz zugestellt gestorben

2. Tschetschenienkrieg (1999-2001)

EPENDIEV, Supjan
gestorben am 29.10.1999
Zeitung Groznenskij Rabochij (Groznyjer Arbeiter), Groznyj, Tschetschenien, Korrespondent

Der Korrespondent wurde im Rahmen von Kampfhandlungen in Groznyj schwer verletzt und starb nach zwei Tagen

GIGAEV, Schamil
Gestorben am 29.10.1999
Fernsehen Nohtscho, Groznyj, Tschetschenien, Kameramann
Umgekommen während der Luftbombardierung durch die russische Armee, die tschetschenische Flüchtlinge auf dem Weg von Groznyj nach Nazran beschossen hatte

MEZHIDOV, Ramzan Hasanovich
gestorben am 29.10.1999
Fernsehsender TV Zentr, Moskau, Russland, Korrespondent

Stark verletzt während der Bombardierung einer Autokolonne, in der er saß, auf dem Wege nach Nazran durch die russische Luftarmee. Wegen des hohen Blutverlusts im Krankenhaus von Nazran verstorben

LOSKUTOV, Alexander Grigorjevich
6.09.1955- 17.12.1999
Zeitschrift Morskoj Sbornik Moskau, Russland, Korrepondent

Gestorben an schweren Verletzungen im Kopfbereich beim Zusammenstoß seines Autos mit einem Panzer

ARZHIEVA, Luiza
1974 – 22.03.2000
Zeitung Istina mira (Weltwahrheit), Moskau, Russland, Korrespondentin

Die Einzelheiten des Todes sind bis heute unbekannt. In der Sterbeurkunde, ausgestellt am 22.06.2000, wurden als Grund für den Tod „mehrere Splitterverletzungen im Brust- und Kopfbereich“ genannt

EFREMOV, Alexander
gestorben am 12.05.2000
Zeitung Nasche Vremja (Unsere Zeit), Tjumen, Bildkorrespondent

Der Wagen, im dem sich der Korrespondent zusammen mit zwei offiziellen Miliz-Offizieren befand, fuhr in Richtung Groznyj und wurde in der Nähe der Siedlung Kirov von tschetschenischen Kämpfern zur Explosion gebracht

TEPSURKAEV, Adam
Gestorben am 23.11.2000
Reuters Nachrichtenagentur, Kameramann

Erschossen in der Siedlung Ermolovka (süd-westlich von Groznyj) von unbekannten Tätern, die Tschetschenisch sprachen

POPKOV, Viktor
Gestorben am 02.06.2001
Novaja Gazeta, Moskau, Russland, Freier Journalist

Am 18. April 2001 wurde der Wagen von Viktor POPKOV in der Nähe der Siedlung Alhan-Kala von zwei unbekannten Tätern beschossen. Der Journalist erlitt mehrere schwere Verletzungen, zwei davon im Kopf. Er erlag diesen Verletzungen einige Wochen später im Krankenhaus von Krasnogorsk

BARANJUK, Juri Danilovich
Gestorben am 27.01.2002
Komsomolskaja Pravda (Komsomolwahrheit), Moskau, Russland, Korrespondent

Der Hubschrauber MI-8 mit dem Korrespondenten sowie 13 weiteren Personen an Bord explodierte aus unbekannten Gründen im Schelkovskij Kreis

SUHOMLIN, Vladimir Vladimirovich
1979-08.01.2003
Moskau, Russland, freier Internet-Journalist, Gründer der unabhängigen Websites http://www.chechnya.ru und http://www.serbia.ru

Die Leiche des Journalisten wurde am Stadtrand von Moskau gefunden. Vladimir wurde am 4. Januar von vorm Kinotheater in Leninskij Prospekt entführt. Die Täter hatten ihn mit Baseballschlägern zu Tode geschlagen. Später wurden Verdächtige festgenommen, die nach ihren Angaben für den Mord am Journalisten 1.200 US Dollar von ihrem Auftraggeber bekamen. Diese wurden bisher nicht ermittelt

HASANOV, Adlan
1970-09.05.2004
Reuters Nachrichtenagentur, Korrespondent

Kam während eines Terroraktes im Stadion „Dynamo“ in Groznyj um. Anlässlich des „Tages des Sieges“ befand sich der Journalist unter den Gästen des amtierenden Präsidenten Akhmad KADYROV: es gab ein Konzert. Dabei explodierte eine Bombe, deren Zündvorrichtung sich auf der zentralen Tribüne des Stadions befand. KADYROV und der Kommandant der Sondertruppen Valeri BARANOV sowie der Korrespondent starben. Insgesamt kamen dabei mehr als 14 Personen ums Leben, 63 Personen wurden schwer verletzt. Heute agiert KADYROV’s Sohn Ramsan KADYROV als Präsident – nicht gewählt, sondern eingesetzt von Wldamir PUTIN

POLITKOVSKAJA, Anna Stepanovna
30.08.1958-07.10.2006
Novaja Gazeta, Moskau, Russland, Korrespondentin

Erschossen an PUTIN’s Geburtstag am 7. Oktober 2006 im Hausaufzug ihrer Wohnung in Moskau. Siehe dazu Anna POLITKOVSKAJA

Redaktion DokZentrum

Dossier TSCHETSCHENIEN

Filed under: investigativer Journalismus, Journalismus, Krieg, Mord, Russland, Tschetschenien

Tschetschenien – eine lange Chronologie

von Sebastian Metcalfe und Henriette Schrader

Einleitung

In dem seit über 400 Jahren herrschenden Konflikt zwischen Tschetschenen auf der einen und Russen auf der anderen Seite geht es in erster Linie um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region im Nordkaukasus. Neben diesem Aspekt spielt auch die Religion eine nicht unbedeutende Rolle, da die Mehrheit der Tschetschenen dem Islam angehört. Russland misst Tschetschenien aufgrund seiner geopolitischen Lage seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Heute empfinden beide Völker angesichts der vielen Opfer, die in den Tschetschenienkriegen bereits ums Leben gekommen sind, vor allem Rachegefühle

16. – 18. Jahrhundert

An den zwei Flüssen Terek und Kuban, die zwischen dem russischen Tiefland und dem Nordkaukasus entlang fließen, gründen sich im 16. Jahrhundert die ersten russischen Kosakengemeinden. Es entstehen militärische Stützpunkte und Festungen. Bei ihren Versuchen bis an die warmen Meere auch weiter südlich vorzudringen, stoßen die Russen auf unerwartet heftigen Widerstand seitens des tschetschenischen Volkes, der sich mit der Ausbreitung des sunnitischen Islam in Tschetschenien im 17. und 18. Jahrhundert weiter verstärkt.
Die Russen geben ihre Kolonialisierungsbestrebungen nicht auf und befürchten vor allem, dass sie durch eine Vereinigung Dagestans mit Tschetschenien ihren geostrategisch bedeutenden Zugang zum Kaspischen Meer verlieren würden. Dagestan ist die Verbindung Russlands zum Kaspischen Meer. Die dagestanische Hauptstadt Machachkala ist der einzige russische Allwetterhafen am Kaspischen Meer.

19. Jahrhundert

Die Kaukasuskriege erreichen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt unter dem tschetschenischen Führer Imam SCHAMIL, bis dieser 1859 kapituliert und es 1864 zum „Jahr der Unterwerfung“ der gesamten Region unter die zaristische Oberherrschaft kommt. Daraufhin emigriert ein Fünftel der tschetschenischen Bevölkerung in die Türkei und in andere Länder des Vorderen Orients.

20. Jahrhundert: 1917

Nach der Oktoberrevolution am 7. November in Russland und den folgenden nationalen Bestrebungen der Regionen im Nordkaukasus droht das Russische Reich unaufhaltsam zu zerbrechen.

1918 – 1922

Im Kaukasus kommt es 1918/19 zu kurzlebigen autonomen Staatsbildungen wie dem „Imamat der Bergvölker“, der „Nordkaukasischen Föderativen Republik“ im Westen und dem „Nordkaukasischen Emirat“ im Osten. Diese Staatsbildungen werden 1920 von Russland unter dem Namen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ (die die heutigen Republiken Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien umfasst) zusammengefasst – und der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) einverleibt. Dagestan erhält einen eigenen Republikstatus. Das Leitwort der sowjetischen Nationalitätenpolitik lautet „korenisazija“ (Einwurzelung). Repräsentanten sollen aus den Völkern stammen, russische Personen, die ein Amt wahrnehmen, müssen die regionalen Sprachen lernen und sich mit dem örtlichen Gewohnheitsrecht vertraut machen. Aus der neuen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ werden in den folgenden Jahren einzelne autonome Gebiete und Republiken im Bestand der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) ausgegliedert. In diesem Zuge entsteht 1922 auch ein autonomes tschetschenisches Gebiet.

1927 – 1933

1927 schwingt sich STALIN zum Diktator der Sowjetunion auf und vollzieht im Jahre 1928 eine Kollektivierung der nordkaukasischen Landwirtschaft. Dies geschieht z. B. durch Zwangsumsiedlungen von Gebirgs- in Talregionen. Außerdem werden immer wenigstens zwei Völker in eine Verwaltungseinheit zusammengefasst.
Auf die Serie von tschetschenischen Aufständen gegen die Zwangsumsiedlungen reagiert die sowjetische Seite mit einer „allgemeinen Operation zur Ausmerzung antisowjetischer Elemente“ im Nordkaukasus. Ganze Regionen kämpfen mittlerweile gegen die rote Armee.

1934 – 1936

Vereinigung des Tschetschenischen und des Inguschischen Autonomen Gebiets, das 1936 umbenannt wird in die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ der Tschetschenen und Inguschen, als Teilrepublik der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) innerhalb der Sowjetunion mit eigensprachiger Verwaltung, Schule und Presse.

Seit 1937

STALIN gelingt es, mit seinem „Generalschlag gegen antisowjetische Elemente“ die Solidarität der Clan- und Stammesgemeinschaften zu brechen: durch Aufspaltung einzelner Gebiete sowie Durchmischung einzelner Volksgruppen. Der bewaffnete Widerstand nimmt daraufhin zu und entwickelt sich zu einer regelrechten Guerillabewegung.

Februar 1944

Die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ wird aufgelöst und STALIN lässt das tschetschenische Volk wegen einer angeblichen heimlichen Zusammenarbeit mit HITLER-Deutschland (die deutschen Truppen hatten den Kaukasus wegen seiner Erdölvorkommen besetzt) nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Bei dieser Gewaltaktion sterben etwa ein Drittel der Deportierten. Heute ist der 23. Februar Volkstrauertag in Tschetschenien.

1953

Nach STALINs Tod am 5. März kehren viele Deportierte illegal zurück in ihre Heimat und demonstrieren damit ihren ausgeprägten Widerstandswillen bzw. ihre Identität mit Tschetschenien.

1956 – 1959

Am 24. November 1956 beschließt das sowjetische Zentralkomitee (ZK) in Moskau unter dem neuen Ersten Sekretär Nikita CHRUSCHTSCHOV die offizielle Wiederherstellung der nationalen Territorien im Kaukasus. Die Rehabilitation des tschetschenischen Volkes wird im Januar 1957 ausgeführt und die Tschetscheno-Inguschische „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ – um diverse Gebiete minimiert – wird wieder hergestellt. Bei der Volkszählung 1959 stellt sich heraus, dass die Bewohnerschaft um über 20 Prozent abgenommen hat.

März 1985

Michail GORBATSCHOV wird neuer Generalsekretär des ZK der KPdSU.

April 1985

Boris JELZIN wird von Präsident Michail GORBATSCHOW vorgeschlagen als Chef der in der Sowjetunion herrschenden kommunistischen Partei (KPdSU) in Moskau.

März 1987

Der Europarat verabschiedet das „Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung“, welches 1989 in Kraft tritt und unter anderem auch von Russland ratifiziert wird.

27. November 1990

Nach dem Zusammenbruch und politischen Zerfall der Sowjetunion bzw. der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), der nicht zuletzt durch Michail GORBATSCHOWs Glasnost-Politik zustande kam, erklären die Tschetschenen ihren verfassungsrechtlichen Austritt aus der UdSSR durch die Deklaration über die staatliche Souveränität der „Tschetscheno- Inguschischen Republik“. MEHR

Dossier TSCHETSCHENIEN

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Interview mit Mainat KOURBANOVA

von Erena Paul

Eine ehemalige ‚Freundin’ bzw. Arbeitskollegin, Mainat KOURBANOVA (Mainat ABDULAJEVA), ehemals Korrespondentin der Novaja Gazeta, erzählt uns über Anna POLITKOVSKAJA. Mainat KOURBANOVA (Mainat ABDULAJEVA) lebt zur Zeit in Deutschland.

vsvet (ansTageslicht.de): Mainat, es ist aus den Medien bekannt, dass Sie und Anna POLITKOVSKAJA bei der selben Zeitung arbeiteten und die ganze Zeit gute Freundinnen waren?

Ich kann leider nicht sagen, dass wir gute Freundinnen waren. Soweit ich weiß, hatte Anna keine Freunde unter Journalisten. Ihre besten Freundinnen waren Frauen, mit denen sie zusammen studierte oder mit denen sie das ganze Leben bekannt war. Es wäre für mich eine große Ehre, ihre Freundin genannt zu werden, aber wir waren gute Bekannte seit der Zeit als ich bei der Novaja Gazeta im Februar 2000 anfing. Wir trafen uns sehr oft in Moskau, Tschetschenien und Inguschetien unter unterschiedlichen Umständen.

vsvet (ansTageslicht.de): Könnten Sie uns erzählen, was für eine Persönlichkeit Anna POLITKOVSKAJA war?Hatte sie irgendwelche Ängste oder Träume? Was waren die Auslöser der Dinge, die sie gemacht hatte und die letztendlich zum traurigen Ende führten?

Zum ersten Mal habe ich POLITKOVSKAJA im Oktober 1999 getroffen. Damals wurde die Tschetschenische Republik bereits von den Russen okkupiert und man durfte weder nach Tschetschenien einreisen noch ausreisen. Die Flüchtlinge, die versucht hatten, das Territorium zu verlassen, wurden von der Luftarmee bomdardiert. Genau in dieser Zeit war ich nach Inguschetien gereist und konnte nun nicht in Tschetschenien zurück. An diesen unruhigen Tagen haben sich Tausende von Menschen zusammengedrängt: einige wollten Tschetschenien verlassen, die anderen nach Tschetschenien hinein. Selbstverständlich waren an der Grenze ganz viele Reporter, Journalisten sowohl aus Russland als auch aus dem Ausland.

Plötzlich habe ich eine Frau gesehen, die sehr aufmerksam den Flüchtlingen zuhörte. Die Menschen, die einen Kreis um sie gebildet haben, waren sehr aufgeregt und unruhig, da ein russischer Journalist – oder einfach „Russen“ – für sie oft die Verkörperung von Kriegmaschinerie oder Macht darstellten. Es war deutlich zu sehen, dass die Frau noch jung war, aber ihre Haare waren bereits grauweiß. Mich hatte die Aufmerksamkeit der Frau regelrecht erschüttert, ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie den Menschen zuhörte. Es gibt Gesichter, in denen du gar nichts siehst und es gibt Gesichter, die zeigen Charakter, Schicksal und starken Willen. Genau so ein Gesicht hatte Anna. Unser nächstes Treffen fand in der Redaktion der Novaja Gazeta statt.

Aus Annas Publikationen war zu sehen, wie stark sie wirklich war, weil nur wenige konnten immer wieder und wieder nach Tschetschenien gehen – eben wegen der Bedrohungen und Verfolgungen, Beleidigungen und schmutzigen Veröffentlichungen, die von den Kremlhörigen Massenmedien veröffentlicht wurden. Nur ein starker Mensch, der in seinen Tiefen von der Schuld der Täter überzeugt ist, kann unter solchen Umständen weiter arbeiten.

Wenn ich mich an Anna erinnere, dann denke ich als erstes an ihr helles und gutherziges Lachen. Sie hatte sich nicht vom Tschetschenischen Krieg verbittern lassen. Vor ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion standen immer oft viele Menschen, den sie immer versuchte zu helfen. Oft waren es Menschen, die ihre letzte Hoffnung auf die Rechtssprechung verloren hatten. Komischerweise haben mehrere von ihnen ihre Hoffnungen auf Anna POLITKOVSKAJA gesetzt, dass sie über ihre Geschichte schreibt oder wird irgendwann schreiben wird. Anna war für sie eine Person, der man immer vertrauen konnte und die Person, der die Schicksale nicht gleichgültig waren.

Zum Schluss möchte ich sagen, dass Anna als Fachspezialistin, als Kriegsreporterin ehrlich, direkt und hart war. Als Frau war sie ein sehr netter und angenehmer Mensch.

vsvet (ansTageslicht.de): Konnte man Anna POLITKOVSKAJA auch als lebensfreudig bezeichnen?

Ihre Lebensfreudigkeit war von einer besonderen Art, weil es jedem, der so viel vom Tod gesehen hat und der es jeden Tag mit Unglück und Kummer zu tun hat, sehr schwer fällt, lebenslang lebensfreudig zu bleiben. Ein Mensch, der ein solches Leben führt, freut sich auf jeden neuen Tag. Er schätzt das Leben und alle schönen Momente, die ihm das Leben gegeben hat. Ich denke, in den letzten Jahren war es ihr eindeutig klar, dass sie auf der „Spitze des Messers“ ging und sie freute sich über jeden weiteren Tag ihres Lebens. Anna hatte 2 Kinder, die sie sehr liebte, und sie wartete ungeduldig auf die Enkelkinder. Als sie getötet wurde, war ihre Tochter bereits schwanger. Das Mädchen, das nach dem Unglück zur Welt kam, wurde auch Anna genannt.

vsvet (ansTageslicht.de): Es ist bekannt, dass Anna POLITKOVSKAJA in Tschetschenien mehr als 50 Male gewesen war. Waren Sie mit Annaauf einer ihrer Reisen zusammen? Können Sie uns vielleicht über ein „Abenteuer“ erzählen?

Ich arbeitete in Tschetschnien als Korrespondentin der Novaja Gazeta. Deswegen tauchte ich in Moskau selten auf, zwei bis drei Mal im Jahr. Ich und Anna trafen uns bei ihren zahlreichen Besuchen immer nur in Tschetschenien.

Einmal im Jahre 2002, als Anna zufällig in Tschetschenien war, wurde im Achhoj-Martan Gebiet ein Grab mit mehreren Leichen gefunden. Die Regierung hatte natürlich versucht, dies nicht öffentlich zu machen. Trotzdem fuhren wir in diese Siedlung. Die Einwohner haben uns den Ort gezeigt, wo die Leichen mit den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen gefunden wurden. Die Toten wurden nach tschetschenischer Tradition in die lokale Moschee gebracht. So wurde es immer gemacht, da es fast immer unmöglich ist, die Leichen zu identifizieren. Die Frauen, die sich dort auf der Suche nach ihren Söhnen oder Verwandten befanden, heulten.

Ich und Anna waren wahrscheinlich die Einzigen, die nicht weinten. Und wenn ich einmal von einem Bekannten gefragt wurde, warum ich nicht weinte, dann antwortete ich, dass wenn ein Kriegsjournalist heult, dann kannst Du gar nicht weiter arbeiten, der Weinkrampf ergreift dich und lähmt deine Willenskraft. Ich weiß nicht, wie es Anna ging, aber ich weinte nachts, weil ich mir sicher war, dass ich eines Tages auf in einer solchen Grube unerkannt aufgefunden würde.

vsvet (ansTageslicht.de): Sie haben bereits die Situation an der Russisch-Tschetschenischen Grenze erwähnt. Es war nicht für jeden Journalisten möglich nach Tschetschenien einzureisen. Man wurde an jedem Kontrollpunkt nach Papieren oder einer Akkreditierung gefragt. Und es war wahrscheinlich nicht immer möglich, die Akkreditierung zu bekommen. Was brauchte denn ein Reporter, um nach Tschetschenien einzudringen?

Als Erstes muss man sagen, es ist lebensgefährlich. Aber wenn ein Mensch wirklich nach Tschetschenien wollte, dann war es immer möglich, sogar in den schweren Zeiten. Der Zeitraum, den ich bereits erwähnt habe, war der Anfang des Krieges, als noch keine aktiven Kriegsoperationen geführt wurden. Die russische Armee hatte nur mit der Okkupierung von Tschetschenien im Ring angefangen. Selbstverständlich wurde Groznyj bereits bombardiert. Die Flüchtlingskolonnen wurden auch bombardiert. Laut Befehl durfte kein Mensch in die Tschetschenische Republik einreisen oder umgekehrt, das Territorium verlassen.

Bis heute ist es offiziell verboten, dass Journalisten ohne staatliche Akkreditierung Tschetschenien besuchen. Aber sogar in den schwersten Zeiten konnten sie die Republik besuchen, wenn sie an jeder Blockstelle bestachen. Damit man es sich besser vorstellen kann, muss man das Niveau der Korruption innerhalb der russischen Armee kenne die in Tschetschenien Ordnung schafft. Nach jedem Kilometer oder zweien befinden sich Blockstellen, an denen man einfach in den Pass 10 bis 20 oder maximal 100 Rubel steckt. Die Kontrollmänner nahmen das Geld raus und wünschten einem „Gute Reise!“ Alle Journalisten, die irgendwann in Tschetschenien waren, wissen es gut.

Damals gab es in der Tschetschenischen Republik weder den Flughafen noch den Eisenbahnbahnhof. Journalisten und auch Anna POLITKOVSKAJA flogen bis Inguschetien. Von dort weiter mit dem Auto. Wenn ein Journalist nicht erkennen lassen wollte, dass er oder sie ein Journalist ist, dann haben sie einfach gesagt, dass man den Pass zuhause vergessen hatte und man gab dierkt in die Hand der Kontrolle 100 Rubel. Das war eine fixe Summe für alle, die ihre Papiere nicht zeigten.

Später wurde Anna POLITKOVSKAJA sehr bekannt in dieser Region. Sie hatte in Tschetschenien bereits viele Freunde. Am Flughafen wurde sie immer von jemandem abgeholt, damit sie selbst kein Bestechungsgeld an den Blockstellen übereichen musste. Für eine bessere Konspiration trug sie wie andere Frauen in Tschetschenien ein Kopftuch. Anna hat immer bei unterschiedlichen Leuten übernachtet und war überhaupt sehr vorsichtig in Tschetschenien. Die Einwohner haben ihr ständig empfohlen, was sie machen sollte und sie folgte den Empfehlungen genau.

vsvet (ansTageslicht.de): Der Name von Anna POLITKOVSKAJA ist ja bekannt in der westlichen Welt. In den europäischen Massenmedien wird ihr Tod als Tod der Demokratie bezeichnet. War Anna in Russland populär? Verbindet man ihren Tod auch mit einer Verletzung der Demokratie in der Russischen Föderation?

Anna POLITKOVSKAJA war sehr bekannt in Russland. Es ist fehlerhaft zu denken, dass sie nur wegen ihrer Arbeit in Tschetschenien populär war. In den letzten Jahren schrieb sie ganz viel über „ die Dedovschina“ (die Schikanierung jüngerer Soldaten durch die Altgedienten Oberen). Sie schrieb auch über Veteranen, über Invalide des Tschetschenischen Kriegs. Nach ihrer Rückkehr werden alle diese Leute nutzlos für den Staat. Sie finden keinen Job, keiner kümmert sich um ihre Rehabilitation in der friedlichen Welt. Der Staat gibt kein Geld für Prothesen. Der Staat hat diese jungen Menschen als Kanonenfutter ausgenutzt und vergessen.

PUTIN sagte einmal in Deutschland, Anna wäre in Russland nicht einflussreich und schon gar nicht populär gewesen. Das stimmt aber nicht. Anna POLITKOVSKAJA erregte viel Hass in den offiziellen Strukturen der Russischen Föderation. Es wurden insgesamt 39 Strafprozesse gegen ihre Publikationen und Veröffentlichungen geführt. Glauben Sie mir, man muss sehr einflussreich sein, bevor sich ein solcher Staat mit einer Person anfängt zu ‚beschäftigen’.

vsvet (ansTageslicht.de): Wurde POLITKOVSKAJA ihrer Meinung nach ein Vorbild für Journalisten?

Es ist offensichtlich, dass sie für viele ein Vorbild war. Seitdem Vladimir PUTIN am Steuer der Macht sitzt, haben sich selbst viele Medien zum Teil oder komplett zensiert. Anna war eine von wenigen, die trotz aller Schwierigkeiten weitermachte. Dort, wo viele aufgegeben haben, weil sie ihren Arbeitsplatz, ihren Wohlstand oder die Familie nicht riskieren wollten, schrieb sie weiter.

Der Fakt, dass sie mehrmals für journalistische Preise nominiert wurde, spricht auch für ihre Person. Sie wurde Preisträgerin des Journalistenverbanda Russlands und erhielt den SCHAROV-Preis. Alle diese Preise werden von Journalisten ausgelobt und verliehen.

Und wenn ihre Kolleginnen und Kollegen selbst aufgehört haben, hatten sie trotzdem großen Respekt vor ihr und ihrer Tätigkeit.

vsvet (ansTageslicht.de): Ist Ihnen etwas über den Ermittlungsstand der Novaja Gazeta bezüglich des Todes von Anna POLITKOVSKAJA bekannt? Beobachten Sie von hier aus die allgemeine Ermittlung des Mordfalls?

Klar beobachte ich die Ermittlung. Die Sache ist nur, dass es sowohl in der westlichen als auch in den russischen Medien zu viele Spekulationen und Provokationen über die Ermittlung zu diesem Thema gibt. Vor einigen Monaten hat die Zeitung Komsomolskaja Pravda mitgeteilt, dass es über einen Satelliten gelungen sei, bestimmte Autokennzeichen zu identifizieren. Zwei Tschetschenen befinden sich bereits hinter Gittern.

Die Position der Novaja Gazeta besteht darin, dass sie über die Ergebnisse in der eigenen Zeitung nicht berichtet. Die vorhandene amtliche Ermittlungsgruppe möchte wirklich zu positiven Ergebnissen kommen und die Mörder und den Auftraggeber finden. Und jede Veröffentlichung in den Medien würde nur der Ermittlung schaden.

Was die selbst geführten Ermittlungen der Novaja Gazeta angeht, so tauschen die Redaktion und die staatliche Ermittlungsgruppe ihre Informationen gegenseitig aus. Es werden insgesamt 2 Versionen geprüft und untersucht.

vsvet (ansTageslicht.de): Glauben Sie daran, dass die Täter gefunden werden oder passiert mit dem Fall POLITKOVSKAJA das Gleiche, wie mit den vielen Dutzenden anderer Journalisten in Russland?

Ich sage ehrlich, ich glaube nicht daran. Ich denke, dass es irgendwann rauskommt und der Täter wird bestraft, aber nicht jetzt oder in der näheren Zukunft. Das ist nicht die Meinung der Novaja Gazeta, sondern meine eigene.

vsvet (ansTageslicht.de): Sie arbeiten zurzeit an Ihrem Erinnerungsbuch. Wird das Buch die Ereignisse des Zweiten Tschetschenischen Kriegs umfassen?

Ja, zum Größtteil sind es Ereignisse des Zweiten Tschetschenischen Kriegs, die ich selbst miterlebt hatte. In diesem Sinne ist das Buch kein Reporter-Buch, sondern eine Sammlung von Essays. Es basiert auf meinen Erinnerungen an die Menschen, die ich kannte und liebte und die im Krieg umgekommen sind oder spurlos verschwunden waren. Das Buch zeigt, wie der Krieg in Tschetschenien durch alle Generationen geht.

vsvet (ansTageslicht.de): Wo wird Ihr Buch veröffentlicht? In Deutschland oder in Russland?

Ich denke in Deutschland. Aber die Frage mit der Veröffentlichung ist noch offen. In Russland eher nicht. Zum einen wegen der Sicherheit meiner Verwandten. Das Problem ist, dass die Straforgane immer deine empfindlichsten Stellen finden und oft sind es die Verwandten und Geliebten.

vsvet (ansTageslicht.de): Haben Sie während Ihres Studiums davon geträumt, Kriegsreporterin zu werden oder wollten Sie über etwas anderes zu schreiben? Zum Beispiel über Kultur, Politik, Wirtschaft…?

Bereits mit 16 habe ich mich in der Journalistik gefunden. Ich schrieb damals über Musik und war Musikkorrespondentin der tschetschenischen Jugendzeitung. Beim Fernsehen moderierte ich ein Autorenprogramm das „Wort“, wo ich mich mit Künstlern, Schriftstellern und anderen Leuten zu verschiedenen Themen unterhalten habe. Und natürlich hatte ich es nie vor, über Kriege zu berichten. Ich wünschte mir im Prinzip zwei Sachen: Schriftstellerin zu werden und viel um die ganze Welt zu reisen. Aber wenn ein Krieg kommt und du als Journalist schweigst, dann ist es die Frage deines Gewissens.

vsvet (ansTageslicht.de): Planen Sie irgendwann in Zukunft über etwas anderes als den Krieg zu schreiben?

Ich denke, es ist nicht mehr möglich. Egal, worüber ich schreibe, sogar wenn es über die Liebe geht, ist es trotzdem über den Krieg. Nachdem ich Tschetschenien verlassen habe, träumte ich überhaupt nicht von den schrecklichen Sachen, die ich dort gesehen hatte. Aber je mehr Zeit vergeht, desto öfters kommen die Greuel des Krieges in meinen Träumen zu mir zurück. Ich glaube, es ist für immer.

vsvet (ansTageslicht.de): Kann man die Situation im heutigen Tschetschenien als friedlich bezeichnen?

Natürlich gibt es dort keinen Frieden. Der Krieg, wie wir ihn kannten, d.h. mit dem Verbrennen von Städten, mit Bombenangriffen und dem Rollen von Selbstfahrlafetten GRAD und URAGAN, gibt es nicht mehr. Die Form des heutigen Krieges ist raffinierter und perverser geworden. D.h. es ist der Krieg der totalen Gewalt und der Angst, die als Folge entsteht. Menschen leben unter solchen Bedingungen und wollen eigentlich nichts anderes als in Ruhe gelassen zu werden.

(EP)

Dossier TSCHETSCHENIEN

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Anna POLITKOVSKAJA

Eine couragierte Journalistin

von Marc Alexander Holtz & Tim Kinkel

Anna MASEPA wird am 30.08.1958 in New York geboren. Ihre Eltern sind ukrainische Diplomaten im Dienst der UdSSR bei den Vereinten Nationen. 48 Jahre später wird sie in Moskau durch fünf Schüsse einer Makarov-Pistole ermordet.

Die auf amerikanischem Boden geborene Anna verschlägt es nach Russland. Als 20jährige heiratet sie Alexander POLIT- KOVSKIJ, den sie kurz vor ihrem Studium der Journalistik an der Lomonossov-Universität in Moskau auf einer Party kennen lernt. Er ist 25. Sie bekommen zwei Kinder. Alexander arbeitet an seiner journalistischen Karriere, Anna übernimmt die Rolle der Hausfrau. Schnell ist sie unausgefüllt, wird eifersüchtig auf seine Arbeit. Sie will auch arbeiten, schreiben. Schreiben, worüber sie denkt. Keine Kompromisse. Nicht für Geld. Nicht für irgendwessens Interessen. 1980 schließt sie ihr Studium ab.

Zunächst arbeitet Anna für diverse russische Zeitungen und Zeitschriften wie z. B. dem Lufttransport oder der Iswestija. Ihr Eintritt in das Leben einer professionellen Journalistin gestaltet sich jedoch schwer. Die Arbeit wird ihren Ansprüchen nicht gerecht, ihre Aufgaben sind substanzlos. Bei der Iswestija verantwortet sie den Briefverkehr.

Ihre Ehe ist ein ewiges Auf und Ab. Alexander und Anna leben in bescheidenen Verhältnissen. Mit Pfandflaschen helfen sie sich die Zeit bis zur nächsten Vorschusszahlung zu überbrücken. Für Kultur reicht das Geld nicht aus, aber Verzicht üben die beiden keinen: Das Theater gegenüber der gemeinsamen Wohnung besucht das Paar regelmäßig. „Wir gingen nach dem ersten Akt, als wir ohne Mantel über die Straße gelaufen kamen, ins Theater hinein, als kämen wir vom Rauchen wieder. Dadurch kannten wir das gesamte Repertoire der Stücke, jeweils ab dem zweiten oder dritten Akt“ (Alexander POLITKOVSKIJ).

1994 dann Annas Wechsel zur Wochenzeitung Obschtschaja Gazeta. Damals eines der Vorzeigeblätter demokratischer Berichterstattung Russlands. Sie wird Kommentatorin, stellvertretende Chefredakteurin und besetzt die leitende Position der Abteilung „Außerordentliche Vorfälle“. Annas Vorliebe für Investigation und Reportage führt sie weiter zur oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta. Sie recherchiert und berichtet über Themen, vor denen die Mehrzahl der Journalisten in Russland bis heute zurückschreckt. Fokus ihrer Berichterstattung sind Korruption, menschenunwürdige Politik, Gewaltherrschaft sowie Unterdrückung der Meinungsfreiheit. 1999 erhält sie von ihrem Chefredakteur Dmitri MURATOV das Angebot, den Job als Sonderkorrespondentin im zweiten Tschetschenienkrieg zu übernehmen. Sie nimmt an.

Anna POLITKOVSKAJAS besonderes Interesse gilt den militärischen Interventionen gegen die Zivilbevölkerung. Ihre Artikel und Reportagen stehen im Widerspruch zur Darstellung des Kremls, der den Krieg im Nord-Kaukasus offiziell bereits als beendet erklärt hat. Sie schreibt über Verbrechen der russischen Armee und der mit ihnen verbündeten paramilitärischen tschetschenischen Gruppen als auch über brutale Übergriffe tschetschenischer Rebellen auf russische Soldaten. Vor allem verweist sie auf die Willkür und den Sadismus innerhalb des Krieges, um auf die humanitäre Katastrophe im Krisengebiet aufmerksam zu machen.

„Ein Krieg lässt sich sehr leicht beginnen, unvergleichlich schwerer ist es, danach all der Ungeheuer Herr zu werden, die er hervorgebracht hat“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA bezieht ihre Kenntnisse stets aus erster Hand. Sie knüpft Kontakte zu tschetschenischen Untergrundkämpfern, Zivilisten, Flüchtlingen sowie zu russischen Soldaten. Folter, Mord, Vergewaltigung, Korruption, Diebstahl, Erpressung und Menschenhandel scheinen für alle Beteiligten in Tschetschenien zum grausamen Alltag in Tschetschenien zu gehören. Auf über 50 Reisen durch die Region spricht sie mit Opfern über ihre Schicksale, erforscht sie die Hintergründe von Entführungen und den so genannten „Säuberungsaktionen“, sieht sie verstümmelte Leichen – auch verstümmelte Lebende – und bringt diese Erfahrungen wieder mit nach Moskau, um sie über die Novaja Gazeta der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dabei belässt sie es nicht nur bei der Berichterstattung, sondern setzt sich darüber hinaus auch aktiv in Gerichtsverfahren für die Familien sowohl der tschetschenischen Zivilbevölkerung wie auch der ermordeter russischer Soldaten ein.

Alexander POLITKOVSKIJ beginnt sich zu dieser Zeit für den Alkohol zu interessieren. Mit seiner Arbeit läuft es nicht mehr gut. Nach der Ermordung eines Journalistenkollegen erreicht er seinen psychischen Tiefpunkt. Die Beziehung zu Anna zerbricht nach 21 Jahren Ehe unter der Schwere seiner persönlichen Probleme.

Im Februar 2001 bekommt Anna POLITKOVSKAJA am eigenen Leib zu spüren, worüber die Menschen in Tschetschenien ihr so oft berichtet haben. Sie wird im tschetschenischen Vedeno von russischen Soldaten verhaftet und stundenlang verhört. Für drei Tage hält man sie in einem Bunker fest, droht ihr Vergewaltigung und die Misshandlung ihrer Kinder an, beschimpft sie und wirft ihr vor, zum Netzwerk des tschetschenischen Rebellenführers BASSAJEV zu gehören. BASSAJEV gilt als einer der brutalsten Protagonisten im Tschetschenien-Konflikt. Der Oberstleutnant lässt sie frei mit den Worten: ‚Wäre es nach mir gegangen, hätte ich dich erschossen’. Trotz dieser Erfahrung versucht sie stets Neutralität zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Widerstandskämpfern zu gewahren, spart es aber nicht aus, die Täter beim Namen zu nennen. Insbesondere äußert sie Kritik an der von Moskau unterstützten Führung in Tschetschenien. Konkret am damaligen tschetschenischen Premier und heutigen Präsidenten Ramzan KADYROV, der ihrer Meinung nach das ganze Land terrorisiere. Dem russischen Präsidenten Vladimir PUTIN wirft sie in diesem Zusammenhang vor, jenes nicht nur zu dulden, sondern bewusst zu steuern. Nachdem PUTIN KADYROV seine eigene Mördermiliz, die so genannte „Kadyrovqi“, gewährt, verbietet der Chefredakteur der Novaja Gazeta Anna POLITKOVSKAJA weiterhin in die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu fliegen.

„Wenn ich nicht mehr schreibe, haben meine Feinde ihr Ziel erreicht“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA weiß um die Gefahr. Dessen ungeachtet nimmt die Regierungs- kritikerin kein Blatt vor den Mund. Morddrohungen und Verhaftungen zum Trotz kritisiert sie PUTIN für seine rassistische Staatsführung, für die Kriege in Tschetschenien, für Folter und Drangsal in der russischen Armee und die konsequente Hetzjagd auf kremluntreue Journalisten. Ihrer Ansicht nach ist die „Wahrheit […] durch die Propaganda […] und durch eine um den Verstand gebrachte Medienlandschaft [ersetzt worden]. Das alles zu Gunsten einer Macht, die davon ausgeht, dass sie Russland sei und aus diesem Grund am besten wisse, was Russland brauche“ (Anna POLITKOVSKAJA). Ihre Kritik an der Kreml-Politik verschafft Anna POLITKOVSKAJA Feinde in hohen Regierungsämtern.

Insbesondere in Kreisen westlicher Menschenrechtsorganisationen wird ihr Name durch ihre Publikationen zum Tschtschenienkrieg ein Begriff. Anna POLITKOVSKAJAS lebensgefährliches Engagement und ihre persönliche Courage werden – als reiche der Mut nicht für mehr – mit diversen journalistischen Auszeichnungen versehen. Die daraus resultierende Popularität erscheint ihr fälschlicherweise als ein Schutzschild. Gleichwohl übt sie Kritik an der westlichen Welt. Sie wirft ihr vor, sich nicht für Russland und seine Menschen, sondern nur für das Gas und das Öl zu interessieren. Immer wieder beklagt sie Deutschlands enge Freundschaft zu PUTIN.

„Auf meiner Suche nach Unterstützung ziehen sie an meinen Augen vorüber, die Hauptstädte der Welt. Im Frühjahr war ich in Amsterdam, Paris, Genf, Manila, Bonn, Hamburg … Überall die Bitte, ‚eine Rede zu halten über die Situation in Tschetschenien‘ – und das Resultat gleich Null. Nur höflicher ‚westlicher‘ Beifall als Reaktion auf die Mahnung: ‚Vergessen Sie nicht, dass in Tschetschenien weiterhin jeden Tag Menschen umkommen. Auch heute’“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA verfolgt die „Mission“, die Wahrheit über die Verhältnisse in Tschetschenien und die Zustände in Russland ans Licht zu bringen. Ihr Pflichtbewusstsein für ihre Arbeit und die Annahme der Rolle als Stimme für die Menschen, die unter dem Krieg in Tschetschenien leiden, sind stärker als ihre Angst. „Sie ist ein sehr harter Mensch und genauso anspruchsvoll ist sie gegenüber ihrer Umwelt. Diese Härte fiel einem sehr schwer auszuhalten. Aber wir haben uns gegenseitig stets normal und mit Respekt behandelt“ (Alexander POLITKOVSKIJ). Ihr Arbeitspensum überbietet dass eines Top-Managers. Sie nimmt sich vor, was kaum zu schaffen ist.

„Ich bin überzeugt von dem, was ich tue. Damit bin ich im Einklang mit mir selbst“ (A. P.).

Ihre ursprünglichen Ambitionen, Souveränität und Kompromisslosigkeit, bewahrt sie sich. Ihr Prinzip: alles veröffentlichen, ohne die Folgen für sich zu bedenken. So verlässt sie beispielsweise Moskau 2001 als Reaktion auf Morddrohungen, nachdem sie einen Artikel veröffentlicht hat, in dem sie das russische Militär in Tschetschenien belastet. Die ihr angeblich sehr ähnlich sehende Nachbarin wird einen Tag nach ihrer Abreise ermordet aufgefunden. Anna POLIT- KOVSKAJA lebt für einige Monate in Wien, kehrt jedoch bald nach Moskau zurück.

2002 besetzen maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – das Dubrovka-Theater in Moskau und bringen knapp 800 Gäste in ihre Gewalt. Anna POLITKOVSKAJA bietet sich zur Vermittlung als Geisel an. Sie wird als Unterhändlerin für die Verhandlungen akzeptiert und versorgt die Festgehaltenen mit Wasser. Den Sturm der russischen Spezialeinheiten und damit den Tod von über 100 Menschen kann sie jedoch nicht verhindern. Unmittelbar danach äußert sie Kritik an der Vorgehensweise der Polizeieinheiten. Anna POLITKOVSKAJA recherchiert das Vorgehen der russischen Behörden während des Sturms auf das Theater auch dann noch, als viele die Hoffnung auf Klärung bereits aufgegeben haben.

2004 besetzen in Beslan maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – eine Schule. Bei der Befreiungsaktion durch russische Spezialeinheiten sterben einige Hundert Menschen, darunter viele Kinder. Kritische Journalisten vermuten hinter der Schulbesetzung eine geplante Aktion des russischen Geheimdienstes FSB – die Nachfolgeorganisation des KGB – zur Stabilisierung des Feindbildes „tschetschenische Terroristen“ und damit zur Rechtfertigung der Militäreinsätze im Nord-Kaukasus. Als auch Anna POLITKOVSKAJA sich nach Beslan aufmacht, wird ihr eine Tasse Tee auf dem Flug – sie nimmt in der Regel nur selbst mitgebrachte Nahrung zu sich – zur verhängnisvollen Ausnahme. Erstmalig wird Anna POLITKOVSKAJA Opfer eines Giftanschlags. Sie verliert das Bewusstsein und wird somit an der Einreise gehindert. Die Täter bleiben unbekannt.

Im Mai 2005 wird Anna POLITKOVSKAJAS parkendes Auto von unbekannten Männern demoliert. Im Oktober versuchen Unbekannte mit einem Mercedes Jeep ihren Wagen von der Straße abzudrängen. An diesem Tag fährt jedoch ihre Tochter das Fahrzeug. Es stellt sich quer, die Männer zerschlagen die Scheiben. Die Täter bleiben unbekannt.

Ein Jahr später, am 07. Oktober 2006, dem Geburtsdatum von Präsident PUTIN, wird Anna POLITKOVSKAJA im Aufzug ihres Wohnhauses mit vier Pistolenschüssen ermordet. Der fünfte, so genannte Kontrollschuss, wird gezielt auf den Kopf abgefeuert. Die Kamera am Haus filmt einen jungen Mann. Die Polizei nimmt die Fahndung auf. Gerüchten zufolge sind mehrere Personen an dem Mord beteiligt gewesen. Die Täter bleiben unbekannt.

Raubmord wird ausgeschlossen. Politischer Mord? Möglich. Der stellvertretende Moskauer Staatsanwalt Vjatschislav ROSSINSKI mutmaßt, dass Anna POLITKOVSKAJAS journalistisches Engagement ihr Leben verantworte. Auch für den Oppositionsabgeordneten Vladimir RYSCHKOV ist die Tat politisch motiviert. Nach Präsident PUTIN nimmt die Reputation Russlands deutlich mehr Schaden durch den Mord an der Journalistin als durch deren Artikel. Der vom Kreml ins Amt des tschetschenischen Präsidenten gehobene Ramzan KADYROV beschuldigt den milliardenschweren Unternehmer und PUTIN-Gegner Boris BERESOVSKI – der im Exil in Großbritannien lebt – für den Mord an Anna POLITKOVSKAJA verantwortlich zu sein. Für die Redaktion der Novaja Gazeta sind die Anschuldigungen unhaltbar und dienen ihrer Ansicht nach dazu, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. So leiten die Verantwortlichen der Zeitung eigene Ermittlungen ein und setzen ein Kopfgeld von 25 Millionen Rubel (740.000 Euro) für der Aufklärung dienliche Hinweise aus.

Der Großteil der russischen Bevölkerung steht dem Ereignis gelassen gegenüber. Der Fall beinhalte keinen Symbolcharakter und sei nur einer von vielen vergleichbaren in Russland, meldet eine Petersburger Senatorin. Die Aufmerksamkeit der westlichen Medien für den Tod Anna POLITKOVSKAJAS spiegelt darum nicht zwangsläufig die Resonanz auf den Mord in ihrer Heimat Russland wieder.

In der westlichen Welt eignet sich der Vorfall des Mordes an einer couragierten und für den Kreml unbequemen, sich für die Menschenrechte einsetzenden Reporterin als Symbol für einen Anschlag auf die Pressefreiheit und insbesondere den investigativen Journalismus. Auch wenn der Name Anna POLITKOVSKAJA in Folge von verschiedenen Ehrungen im Westen bekannter ist als der von vielen ihrer ermordeten (und noch aktiven) Mitstreiter im Kampf um Gerechtigkeit, verhilft erst der Mord an der Person POLITKOVSKAJA dieser zu Ehre und Ansehen auch innerhalb der Massenmedien. So schnell die mediale Popularität POLITKOVSKAJAS auftaucht, so schnell verschwindet sie wieder von der Agenda westlicher Medien.

(NKL, VIL, MAH, THK)

Dossier TSCHETSCHENIEN

Neuer Chefermittler im Mordfall Politkowskaja (SPIEGEL online, 04.09.07)

Festnahme im Mordfall Politkowskaja (SPIEGEL online, 15.9.07)

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Tschetschenien – der vergessene Krieg

Tschetschenien liegt weit weg – in Kilometern gerechnet und in Einheiten öffentlicher Wahrnehmung. Obwohl in einigen Zeitungen ab und an Meldungen aus dem fernen Land auftauchen.

Im April 2007 gab es wieder meldenswerte Neuigkeiten: Ramsan KADYROV (KADYROW), Amateurboxer und Anführer der so genannten Kadyrowzy, einer schwerbewaffneten privaten Söldnertruppe, und Sohn des 2004 bei einer Bombenexplosion umgekommenen Präsidenten von Tschetschenien Achmad KADYROV, wurde nun selbst Präsident – er war Wladimir PUTIN’s (einziger) Kandidat, und so war es dann auch gekommen. Bis dahin hatte er sich um den „Aufbau“ des Landes verdient gemacht und bekam von Russlands Präsident PUTIN den Orden „Held Russlands“ verliehen – eine hohe Auszeichnung.

KADYROV’s verdienstvoller Job: mit seinen Tausenden von Privatsöldnern Aufständische, d.h. „Terroristen“ zu eliminieren. Als Terrorist gilt, nachdem das Land wieder unter russischer Oberhoheit steht, sprich offiziell unwidersprochen Bestandteil der „Russischen Föderation“ ist, jeder, der ernsthaft von der Unabhängigkeit Tschetscheniens zu träumen wagt.

Offiziell gibt es in Tschetschenien nicht mehr Krieg – auch die beiden Tschetschenienkriege 1994-1995 und 1999-2000 sind offiziell immer für „beendet“ deklariert worden. Tatsächlich aber sind Übergriffe, Entführungen, Mord und Vergewaltigungen, Terror und Einschüchterungen an der Tagesordnung. Dies berichten immer wieder (sehr wenige) Informanten, Menschenrechtsorganisationen und andere parlamentarische Untersuchungskommissionen, sofern sie in das Land hineingelassen werden.

Medien, d.h. Pressevertreter dürfen und können nur mit offizieller Anmeldung und Genehmigung nach Tschetschenien. Alles wird überwacht und streng kontrolliert: der Flughafen, die wenigen Eisenbahnlinien, alle Strassen. Staatliche „Führer“ folgen Medien auf Schritt und Tritt – eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich.

Trotzdem gibt es immer wieder Journalisten, die es im Dienste der Öffentlichkeit riskieren. Anna POLITKOVSKAJA war eine von ihnen – rund 50 heimliche Recherchereisen hatte sie unternommen und letztlich dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Zwei Moskauer Korrespondenten aus Deutschland, Tomas AVENARIUS für die Süddeutsche Zeitung und Florian HASSEL für die Frankfurter Rundschau, hatten sich 2002 zusammengetan, obwohl sie eigentlich ‚Konkurrenten’ waren. Sie sind ebenfalls heimlich und unerkannt nach Tschetschenien gefahren, um von dort – wenigstens zwischendurch mal – authentisch darüber berichten zu können, was dort vor sich geht.

„Der Vergessene Krieg“ – so haben sie ihre Berichte beschrieben, die in Deutschland parallel in der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Frankfurter Rundschau (FR) zu lesen waren.

Da Tschetschenien auch in unserer Aufmerksamkeit oder Gedächtnis weit weg ist, haben wir – um die Zusammenhänge deutlich zu machen – 2 Chronologien über das Land zusammengestellt: einen kurzen Überblick, in dem nur die allerwichtigsten Informationen ganz knapp enthalten sind, und eine etwas längere Chronologie, die auch ein klein wenig historisch den Ablauf der Ereignisse erklären kann.

Derjenigen, der im Westen das größte Verdienst um Aufklärung gebührt, ist ein ausführliches Portrait gewidmet: Anna POLITKOVSKAJA.

Über die Zeitung, für die sie geschrieben hatte, die Novaja Gazeta in Moskau, wird es künftig Informationen beim Wächterpreis geben. Das kleine, aber unerschrockene Blatt, hat 2007 den Henri-Nannen-Preis für ihr Engagement in Sachen Pressefreiheit zugesprochen bekommen.

Über eine andere Zeitung aus Tschetschenien für Tschetschenien, die sich in den ganzen kriegerischen und politischen Wirren bis heute unabhängig erhalten konnte, werden wir zeitnah ebenso informieren. Die Zeitung publiziert auch in englischer Sprache: Tschetschenskoe bzw. Chechen Society.

Offiziell existieren in Russland demokratische Spielregeln und ebenso amtlich bestätigt herrscht dort Pressefreiheit. Wir stellen einige Informationen zusammen, die dieses Bild ein wenig trüben: Pressefreiheit in Russland.

Dazu gehört – leider – auch eine Liste all der Namen, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung aus oder über Tschetschenien ums Leben gekommen sind: Getötete und ermordete Journalisten.

Redaktion Wächterpreis

Dossier TSCHETSCHENIEN 

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