von Sebastian Metcalfe und Henriette Schrader
Einleitung
In dem seit über 400 Jahren herrschenden Konflikt zwischen Tschetschenen auf der einen und Russen auf der anderen Seite geht es in erster Linie um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region im Nordkaukasus. Neben diesem Aspekt spielt auch die Religion eine nicht unbedeutende Rolle, da die Mehrheit der Tschetschenen dem Islam angehört. Russland misst Tschetschenien aufgrund seiner geopolitischen Lage seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Heute empfinden beide Völker angesichts der vielen Opfer, die in den Tschetschenienkriegen bereits ums Leben gekommen sind, vor allem Rachegefühle
16. – 18. Jahrhundert
An den zwei Flüssen Terek und Kuban, die zwischen dem russischen Tiefland und dem Nordkaukasus entlang fließen, gründen sich im 16. Jahrhundert die ersten russischen Kosakengemeinden. Es entstehen militärische Stützpunkte und Festungen. Bei ihren Versuchen bis an die warmen Meere auch weiter südlich vorzudringen, stoßen die Russen auf unerwartet heftigen Widerstand seitens des tschetschenischen Volkes, der sich mit der Ausbreitung des sunnitischen Islam in Tschetschenien im 17. und 18. Jahrhundert weiter verstärkt.
Die Russen geben ihre Kolonialisierungsbestrebungen nicht auf und befürchten vor allem, dass sie durch eine Vereinigung Dagestans mit Tschetschenien ihren geostrategisch bedeutenden Zugang zum Kaspischen Meer verlieren würden. Dagestan ist die Verbindung Russlands zum Kaspischen Meer. Die dagestanische Hauptstadt Machachkala ist der einzige russische Allwetterhafen am Kaspischen Meer.
19. Jahrhundert
Die Kaukasuskriege erreichen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt unter dem tschetschenischen Führer Imam SCHAMIL, bis dieser 1859 kapituliert und es 1864 zum „Jahr der Unterwerfung“ der gesamten Region unter die zaristische Oberherrschaft kommt. Daraufhin emigriert ein Fünftel der tschetschenischen Bevölkerung in die Türkei und in andere Länder des Vorderen Orients.
20. Jahrhundert: 1917
Nach der Oktoberrevolution am 7. November in Russland und den folgenden nationalen Bestrebungen der Regionen im Nordkaukasus droht das Russische Reich unaufhaltsam zu zerbrechen.
1918 – 1922
Im Kaukasus kommt es 1918/19 zu kurzlebigen autonomen Staatsbildungen wie dem „Imamat der Bergvölker“, der „Nordkaukasischen Föderativen Republik“ im Westen und dem „Nordkaukasischen Emirat“ im Osten. Diese Staatsbildungen werden 1920 von Russland unter dem Namen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ (die die heutigen Republiken Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien umfasst) zusammengefasst – und der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) einverleibt. Dagestan erhält einen eigenen Republikstatus. Das Leitwort der sowjetischen Nationalitätenpolitik lautet „korenisazija“ (Einwurzelung). Repräsentanten sollen aus den Völkern stammen, russische Personen, die ein Amt wahrnehmen, müssen die regionalen Sprachen lernen und sich mit dem örtlichen Gewohnheitsrecht vertraut machen. Aus der neuen „Sowjetrepublik der Bergvölker“ werden in den folgenden Jahren einzelne autonome Gebiete und Republiken im Bestand der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) ausgegliedert. In diesem Zuge entsteht 1922 auch ein autonomes tschetschenisches Gebiet.
1927 – 1933
1927 schwingt sich STALIN zum Diktator der Sowjetunion auf und vollzieht im Jahre 1928 eine Kollektivierung der nordkaukasischen Landwirtschaft. Dies geschieht z. B. durch Zwangsumsiedlungen von Gebirgs- in Talregionen. Außerdem werden immer wenigstens zwei Völker in eine Verwaltungseinheit zusammengefasst.
Auf die Serie von tschetschenischen Aufständen gegen die Zwangsumsiedlungen reagiert die sowjetische Seite mit einer „allgemeinen Operation zur Ausmerzung antisowjetischer Elemente“ im Nordkaukasus. Ganze Regionen kämpfen mittlerweile gegen die rote Armee.
1934 – 1936
Vereinigung des Tschetschenischen und des Inguschischen Autonomen Gebiets, das 1936 umbenannt wird in die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ der Tschetschenen und Inguschen, als Teilrepublik der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) innerhalb der Sowjetunion mit eigensprachiger Verwaltung, Schule und Presse.
Seit 1937
STALIN gelingt es, mit seinem „Generalschlag gegen antisowjetische Elemente“ die Solidarität der Clan- und Stammesgemeinschaften zu brechen: durch Aufspaltung einzelner Gebiete sowie Durchmischung einzelner Volksgruppen. Der bewaffnete Widerstand nimmt daraufhin zu und entwickelt sich zu einer regelrechten Guerillabewegung.
Februar 1944
Die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ wird aufgelöst und STALIN lässt das tschetschenische Volk wegen einer angeblichen heimlichen Zusammenarbeit mit HITLER-Deutschland (die deutschen Truppen hatten den Kaukasus wegen seiner Erdölvorkommen besetzt) nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Bei dieser Gewaltaktion sterben etwa ein Drittel der Deportierten. Heute ist der 23. Februar Volkstrauertag in Tschetschenien.
1953
Nach STALINs Tod am 5. März kehren viele Deportierte illegal zurück in ihre Heimat und demonstrieren damit ihren ausgeprägten Widerstandswillen bzw. ihre Identität mit Tschetschenien.
1956 – 1959
Am 24. November 1956 beschließt das sowjetische Zentralkomitee (ZK) in Moskau unter dem neuen Ersten Sekretär Nikita CHRUSCHTSCHOV die offizielle Wiederherstellung der nationalen Territorien im Kaukasus. Die Rehabilitation des tschetschenischen Volkes wird im Januar 1957 ausgeführt und die Tschetscheno-Inguschische „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ – um diverse Gebiete minimiert – wird wieder hergestellt. Bei der Volkszählung 1959 stellt sich heraus, dass die Bewohnerschaft um über 20 Prozent abgenommen hat.
März 1985
Michail GORBATSCHOV wird neuer Generalsekretär des ZK der KPdSU.
April 1985
Boris JELZIN wird von Präsident Michail GORBATSCHOW vorgeschlagen als Chef der in der Sowjetunion herrschenden kommunistischen Partei (KPdSU) in Moskau.
März 1987
Der Europarat verabschiedet das „Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung“, welches 1989 in Kraft tritt und unter anderem auch von Russland ratifiziert wird.
27. November 1990
Nach dem Zusammenbruch und politischen Zerfall der Sowjetunion bzw. der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), der nicht zuletzt durch Michail GORBATSCHOWs Glasnost-Politik zustande kam, erklären die Tschetschenen ihren verfassungsrechtlichen Austritt aus der UdSSR durch die Deklaration über die staatliche Souveränität der „Tschetscheno- Inguschischen Republik“. MEHR
Dossier TSCHETSCHENIEN
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